12. Der Nationalrat muckt auf Aus «Staatsmann im Sturm»

Als die Bundesversammlung Ende August dem Bundesrat beinahe unbeschränkte Vollmachten erteilte, machte sie es ihm zur Pflicht, zweimal jährlich dem Parlament Bericht zu erstatten. Danach können die Räte entscheiden, ob diese Beschlüsse weiter in Kraft bleiben. Ihren ersten Bericht lieferte die Regierung am 21. November ab. Vielen Parlamentariern ist der Bundesratsbeschluss vom 8. September über das Nachrichtenwesen ein Dorn im Auge. Gegen den Willen der mächtigen Vollmachtenkommission, welche die «Zensurdebatte» auf die Februarsession verschieben wollte, erzwingen sie eine sofortige Diskussion. Verschiedene Nationalräte, vor allem solche, die selber journalistisch tätig sind, kritisieren weniger den Bundesratsbeschluss an sich als die von der Abteilung Presse und Funkspruch angewandte Praxis. Johannes Huber, der scharfsinnige «Kronjurist» der SP:

Es ist unseres Erachtens nicht angängig, dass eine solche Machtfülle militärischen Instanzenüberantwortet wird, und zwar in Angelegenheiten, in denen militärischen Instanzen die nötige Qualität fehlt. Dass wir mit dieser Kritik recht haben, das beweist die Praxis, vor allem jene gewisser Territorialkommandanten und ihrer Pressestellen.

Arthur Schmid (Oberentfelden), der in Zensurfragen hellhörige Redaktor des sozialistischen «Freien Aargauers», ist «grundsätzlich» mit dem Bundesrat nicht einverstanden.

Wir haben den Eindruck gewonnen, dass der Bundesrat seit dem Ausbruch des Krieges den Wunsch hegt, das Schweizervolk solle möglichst schweigen, es solle sich wenn immer möglich auch in der Presse zu wichtigsten und dringlichsten Fragen, die letzten Endes unsere Existenz, die Menschlichkeit und die Gerechtigkeit betreffen, nicht aussprechen.

In Pressefragen hört der Rat gerne auf den 64-jährigen Chefredaktor der liberalen «Basler Nachrichten» Albert Oeri. Zensor zu sein, meint Oeri, sei eine «schwierige und undankbare Sache», deshalb gelüste es ihn nicht, selber «Zensor des Zensors» zu sein. Er bestreitet auch nicht die Nützlichkeit der Zensur in gewissen Zeiten. Oeri fragt sich allerdings, was mit einer Mahnung der Zensur anzufangen sei, keine «unkontrollierten Nachrichten» zu bringen.

Um Himmels willen: jeder von uns Unglücklichen von der Presse weiss doch, dass 99%, ja 999,999% aller Nachrichten, die wir bringen müssen, eben wohl oder übel unkontrolliert sind. Das gilt selbst von Heeresberichten. Wenn es z. B. heisst: «Verstärkte Artillerietätigkeit im Moselgebiet», so können wir das doch nicht kontrollieren.

Oeri befürchtet, dass der Bundesrat «ausländischen Beeinflussungsversuchen» nachgeben und damit den Weg zur «Gesinnungsneutralität» öffnen könnte.

Mir wäre es eine besondere Beruhigung, wenn ich von Seiten des Bundesrates die Erklärung erhalten könnte, dass er gegenüber ausländischen Beeinflussungsversuchen festbleiben werde.

Es ist für Rat und Öffentlichkeit kein Geheimnis, dass deutsche Amtsstellen und Zeitungen der schweizerischen Presse vorwerfen, sie sei nicht neutral, sondern franko- und anglophil. Dies begann 1933 mit der Machtübernahme Hitlers. Ernst von Weizsäcker klagte schon als Gesandter in Bern, die Lektüre der Schweizer Zeitungen versalze ihm den Morgenkaffee. Obschon eigentlich ein Freund der Schweiz, liest er als Staatssekretär dem Gesandten Hans Frölicher ständig die Leviten über die Sünden der Schweizer Presse. 

Zum Autor

Schriftsteller Hanspeter Born

Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997);Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

Seit Kriegsbeginn beschweren sich deutsche Diplomaten regelmässig beim Politischen Departement. So protestierte am 22. November1939 Legationsrat Freiherr von Bibra, de facto Landesgruppenleiter der NSDAP undstarker Mann in der Berner Gesandtschaft, gegen einen Artikel des polnischen Gesandten Thytus Sas Komarnicki in der «Gazette de Lausanne» und redete von einem «grotesken Verstoss gegen die Neutralität». Darauf wurde ihm mitgeteilt, die Presseabteilung werde dafür sorgen, «dass solche Publikationen nicht mehr vorkommen». Schon früher hatte Bibra die Worte fallen lassen, «dass der Führer gegen die Schweiz sehr schlecht gestimmt sei, und dass die jüngsten Entgleisungen der Schweizer Presse ihn zu Äusserungen veranlasst hätten, die, wie der Berliner sage, bis zu äusserst an die Palmenspitze gingen».

Am Schluss der Dezember-Nationalratsdebatte beteuert Bundesrat Johannes Baumann, dass niemand die «Presse neutralisieren» wolle. Er bestreitet, dass eine «ausländische Beeinflussung» zu einer Verschärfung der Pressekontrolle geführt habe. In seinem Schlusswort mahnt er:

Wenn unsere Soldaten an der Grenze Wacht halten sollen, dann darf doch verlangt werden, dass im Hinterland keine Ausschreitungen der Presse erfolgen, die die Sicherheit unseres Landes gefährden können.

Er hat in dieser Beziehung eine ähnliche Auffassung wie General Guisan und Nachrichtenchef Masson. Die Ratsdebatte endet, aber das Misstrauen gegenüber der Presseüberwachung bleibt. In der «Gazette» nennt Pierre Grellet die Zensur durch das Militär einen Fehler, der ins Auge springe.

In einem nach militärischer Hierarchie organisierten Büro, welches ein Amt verwaltet, das vor allem das Zivilleben betrifft, kann es vorkommen, dass die Kompetenzen im umgekehrten Sinn verteilt sind als der Grad, dass ein Korporal seinen Beruf viel besser kennt als der Oberst und trotzdem ist es der Korporal, der die Befehle seines hierarchischen Vorgesetzten ausführen muss.

Bundeshauskorrespondent Georges Perrin, nebenamtlich Pilets Verbindungsmann zum Radio, zieht folgendes Fazit über die Zensurdebatte, die Bundesrat und Vollmachtenkommission lieber vermieden hätten:

Eine solche Debatte war von hohem Nutzen und die [Vollmachten-] Kommission beging einen grossen psychologischen Fehler, als sie sich darauf versteifte, sie umgehen zu wollen. Die Behörden sind jetzt gewarnt. Sie können en connaissance de cause einschreiten und gewisse Erscheinungen, welche die Presse zurecht beunruhigt haben, zum Verschwinden bringen. Wenn die Behörden jetzt bald handeln, dann wird die Zensur, deren Notwendigkeit niemand bestreitet, zur Zufriedenheit aller funktionieren. In diesem Sinn hat die Debatte vom Dienstag die Aufgabe der Regierung enorm erleichtert. 

Pilet wird die Meinung seines Vertrauensmanns Perrin geteilt haben.

«Staatsmann im Sturm»

Cover: Staatsmann im Sturm

       

Hitlers Blitzsiege machten 1940 zum gefährlichsten Jahr in der jüngeren Geschichte der Schweiz. Das völlig eingeschlossene Land war auf Gedeih und Verderb Nazi-Deutschland ausgeliefert. Die Last seiner Aussenpolitik lag auf den Schultern von Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz. Mit viel Geschick steuerte er die Schweiz unbeschadet durch stürmische Monate. In der Geschichtsschreibung gilt der Waadtländer als «Anpasser», der den Nazis zu Gefallen war. Hanspeter Born zeichnet ein anderes Bild des Juristen, Schöngeists und Landwirts aus der Romandie. Seine auf Primärquellen, teils unbekannte Dokumente aus dem Familienarchiv Pilet, beruhende Studie wertet den Umstrittenen als klugen und standfesten Staatsmann.

«Die kapitale Mission des Bundesrates in den gegenwärtigen Zeitläufen besteht darin, das Land in der Unabhängigkeit und Freiheit zu erhalten. Sein Wille, hiefür seine ganze Energie und seine ganze Umsicht einzusetzen, braucht keinerlei besondere Erwähnung. Dinge, die sich aufdrängen und über jeder Diskussionstehen, verlieren, wenn man sie wiederholt.» Marcel Pilet-Golaz, Lausanne,12. September 1940


Hanspeter Born, Staatsmann im Sturm. Pilet-Golaz und das Jahr 1940. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 540 Seiten, CHF 32.–. ISBN 978-3-907 146-72-, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld
Umschlagsbild: KEYSTONE-SDA / Photopress-Archiv


Beitrag vom 09.04.2023

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