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Auf Abwegen 27. März 2023

Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von der vorübergehenden Rückkehr in den alten Beruf.

Usch Vollenwyder
Usch Vollenwyder,
Zeitlupe-Redaktorin
© Jessica Prinz

So gut bin ich in der Pensionierung angekommen! Die Balance zwischen Nichtstun und Engagement habe ich gefunden: Begegnungen, Gespräche, Briefe und ein offenes Ohr für Kummer und Probleme haben Vorrang. Ich habe Zeit für ein «Lesegrüppchen» im Dorf und die wöchentliche Probe im Kammerchor einer Nachbargemeinde. An der Uni Bern habe ich mich für einen Studiengang zum Thema Lebensende angemeldet. Ich bin jederzeit für spontane Überraschungen zu haben und gönne mir kleinere und grössere Extras: Wenn das Wetter schön ist und ich Lust habe, wird meine tägliche Hunderunde doppelt so lang. Dann kann es gut vorkommen, dass ich sie im Flughafenrestaurant in Belp bei einem Aperol Spritz ausklingen lasse und meinem Fernweh fröne. 

Meine Tage sind ausgefüllt. Mir wird nie langweilig und die Entschuldigung «Ich habe keine Zeit» habe ich aus meinem Vokabular gestrichen. Ein bisschen Schreiben habe ich in meinen Pensionierten-Alltag gerettet: Ich nehme den einen oder anderen journalistischen Auftrag an, aber nur, wenn mich das Thema interessiert. In meinem Kopf und PC geistert ein Gürbetal-Krimi herum. Mit meiner ersten Redaktionsfreundin tausche ich mich über neue Formen des Schreibens aus. Ich denke zwar gern an meinen Beruf zurück, aber ich trauere ihm nicht nach. Trotzdem zögerte ich keine Sekunde, als ich anfangs Jahr gefragt wurde, ob ich für einen Redaktionskollegen eine dreimonatige Vertretung übernehmen würde. Natürlich würde ich, sehr gern sogar! Und so sitze ich seit Anfang März wieder im Zeitlupe-Boot und mittendrin im Arbeitsleben. 

Es ist wie früher, und es fühlt sich gut an. Die Redaktionssitzungen, wenn die nächste Zeitlupe besprochen wird. Die gemeinsamen Mittagessen. Die Gespräche, der Austausch, die Diskussionen. Ich spüre das vertraute Feuer, wenn ich ein Thema recherchiere, mich hineinlese, Gesprächspartnerinnen oder -partner suche und Interviews vorbereite. Das erwartungsvolle Kribbeln, bevor eine Geschichte entsteht. Der Schreibprozess, der mich Stunden harter Arbeit und schlaflose Nächte kostet. Das Glücksgefühl, wenn der Beitrag rund und stimmig fertig ist. Die Gewissheit, den spannendsten und schönsten Beruf ausüben zu dürfen. 

Und trotzdem: Ich fühle mich auf Abwegen. Ich vertröste eine Freundin auf später. Ich verschiebe private Telefonanrufe, ich sage den Coiffeur ab. Die Wäsche bleibt tagelang über dem Ständer liegen, und während ich im Berner Münster Bachs Matthäuspassion lausche, denke ich, dass ich nachher noch zwei Mails schreiben muss. Die Arbeit dominiert als Alleinherrscherin wieder meinen Alltag – wie früher. Ich habe nie gelernt, Beruf und Privates zu trennen. Ich hab’s nie geschafft, mir die Arbeit einigermassen schlau einzuteilen. Noch immer wird sie erst im letzten Hühneraugenblick fertig. Ich gebe auf. Ich ändere mich nicht mehr.

Mitten im Fluss soll man die Pferde nicht wechseln, sagt ein altes Sprichwort. Ich war im Fluss der Pensionierung mit neuen Aufgaben und Zielen. Diese habe ich auf Eis gelegt – wenn auch freiwillig, mit Vergnügen und nur vorübergehend. Ich mache eine neue Erfahrung und staune selbst: Die Pensionierung – vor wenigen Jahren noch eine Horrorvorstellung – hat eine Tiefe und einen Wert bekommen, die ich erst jetzt richtig schätze. 


  • Wie sind Sie in der Pensionierung angekommen? Wären Sie gern noch im Arbeitsprozess oder schätzen Sie die neuen Freiheiten? Wir würden uns freuen, wenn Sie uns darüber berichten oder die Kolumne mit anderen teilen würden. Herzlichen Dank im Voraus.
  • Hier lesen Sie weitere «Uschs Notizen»

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Beitrag vom 27.03.2023

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