Farbenfroher Finkenvogel
Mit seiner Farbenpracht ist der Stieglitz wohl der schönste unter den heimischen Singvögeln. Bekannt ist er für seine Vorliebe für Distelsamen, die er geschickt aus den stacheligen Blütenköpfen pickt.
Text: Esther Wullschleger Schättin
Naturnahe Parks und Gärten, die nicht zu sauber gepflegt werden und wo verblühte Stauden stehen bleiben, kommen vielen einheimischen Tieren zugute. Ein reiches Angebot an reifen Samenständen zieht oft auch den Stieglitz an. Kleine Trupps dieser farbenprächtigen Finken mit dem roten Gesicht zeigen sich hie und da im Siedlungsraum, in Gärten und Parks, auf Brachflächen, aber auch in reich strukturiertem Kulturland mit Hecken, Obstgärten, Krautfluren, Gebüsch oder Waldrandlagen. Wenn sie auffliegen, fällt ein gelbes Flügelband auf, das mit den ansonsten schwarzen Flügeln kontrastiert.
Stieglitz heisst der bunte Vogel wegen seines hellen, wie «Stigelit» klingenden Rufes, während sein zweiter Name – Distelfink – an die bevorzugte Nahrung erinnert. Er gehört zur Verwandtschaft der Finken, die typischerweise Körnerfresser sind und kurze, kräftige Schnäbel tragen. Der elfenbeinfarbene Schnabel des Stieglitzes ist dagegen recht lang und läuft spitz zu.
Spezialist für stachelige Blütenköpfe
Anstatt harte Samen zu knacken hat sich dieser Finkenvogel mehr darauf spezialisiert, tief in stacheligen Distelköpfen oder in den Blütenständen von Karden liegende kleine Samen herauszuklauben. Andere heimische Stauden mit ähnlich bewehrten Blütenständen wie die Kletten ergänzen das Angebot. Aber auch Mohnköpfe scheinen die Stieglitze gern zu nutzen. Dabei picken sie mit dem spitzen Schnabel die robusten Fruchtkapseln des Mohns an, um an die winzigen Samen zu gelangen.
Disteln, Karden und ähnliche Stauden sind wohl die wichtigsten Nahrungspflanzen für die bunten Distelfinken. Wo Gräser, Krautpflanzen und Blumen zur Samenreife gelangen, finden sich am ehesten kleine Trupps dieser Vögel auf der Nahrungssuche ein. Sie sind geschickte Kletterer und halten sich mit ihren kurzen Beinen gut an den schwankenden Stauden fest, während sie die Samen herauspicken. Die akrobatischen Finken können sogar kopfüber an den Pflanzen hängend picken.
Im Ganzen sind sie bezüglich ihrer Ernährung jedoch wenig spezialisiert und verzehren neben verschiedenen weiteren Pflanzensamen auch Knospen, Blüten und Früchte von Bäumen und Sträuchern. Insekten werden ebenfalls aufgenommen, vor allem im zeitigen Frühjahr, wenn es noch an Samennahrung mangelt. Wenn sie gelegentlich am Boden nach Nahrung suchen, bewegen sich die Stieglitze wie die Spatzen hüpfend fort, während langbeinige Bodenvögel wie die Bachstelze schreiten.
Kunstvolles Napfnest
Das Stieglitzmännchen trägt einen angenehm plaudernd-trillernden Finkengesang vor, meist von einer erhöhten Warte aus. Auch die Weibchen singen, wenngleich weniger laut und anhaltend. Äusserlich sind sich die Geschlechter sehr ähnlich, doch im Vergleich zum Männchen erscheint das Stieglitzweibchen ein wenig matter und zeigt eine etwas weniger ausgedehnte rote Gesichtsfarbe. Zudem weist das Männchen einen leicht spitzeren und längeren Schnabel auf.
Etwa Mitte April baut das Weibchen sein kunstvolles Napfnest, meist in den äusseren Zweigen eines freistehenden Gehölzes und gut verborgen zwischen dem Laub. Grashalme, feine Wurzeln, Moos und Flechten, Tierhaare, Gespinste und anderes Feinmaterial wie kleine Federchen, gelegentlich sogar «gestohlenes» Material aus anderen Vogelnestern, flicht es in das kleine Nest ein. Darin brütet das Weibchen etwa vier bis fünf Eier aus, während das Männchen Nahrung herbeibringt.
Ähnlich wie die Tauben haben Stieglitze einen Kropf, also eine Ausweitung der Speiseröhre, in welcher sie Nahrung speichern und vorquellen können. So erhalten auch die jungen Stieglitze emporgewürgte Nahrung aus dem Kropf, wie vorverdaute Sämereien, und kleine Insekten oder deren Larven, die besonders für ganz junge Nestlinge wichtige Proteine bieten.
Manche überwintern hierzulande
Stieglitze besetzen kein bestimmtes Brutrevier, da sie zur Nahrungssuche recht weit umherstreifen müssen. Sie verteidigen lediglich die unmittelbare Umgebung ihres Nestes gegenüber Artgenossen. Manchmal bilden sich sogar kleine Kolonien von drei bis fünf Paaren, die in einiger Nähe zueinander nisten.
Meist sind die geselligen Finken in kleinen Trupps oder als Paare unterwegs, im Herbst und Winter scharen sie sich zu grösseren Gruppen zusammen. Unsere Stieglitze sind Kurzstreckenzieher, die über den Winter grösstenteils nach Südfrankreich ziehen. Wie es scheint, überwintern immer mehr dieser Finken hierzulande, vor allem in der westlichen und südlichen Schweiz, seit die Winter häufiger milde verlaufen.
Für den Käfigvogelhandel gejagt
Der farbenprächtige Stieglitz mit seinem angenehmen Gesang ist seit Römerzeiten ein beliebter Käfigvogel. Abertausende dieser Vögel wurden noch im 19. Jahrhundert in der Natur gefangen. Heute ist das in Mitteleuropa verboten, doch laut Vogelschützern werden Stieglitze, etwa in Deutschland, immer noch gewildert und als angeblich legal gezüchtete Vögel verkauft. Besonders schlimm scheint die Situation in Nordafrika, wo die Bestände durch die Wilderei für den Käfigvogelhandel rapide abgenommen haben. In Nordafrika lebt eine andere Unterart des Stieglitzes, die sich leicht von der mitteleuropäischen unterscheidet.