Vom Trachtenmeitli zur Lehrerin
Köniz, Kabul, Kathmandu: Käthi Krüger-Spycher aus Erlach BE ist weitgereist. Als junge Frau war sie mit dem VW-Bus unterwegs auf der beliebten Route von Europa nach Nepal. In Afghanistan lernte sie ihren späteren Mann kennen. Die Liebe blieb – diejenige zueinander ebenso wie diejenige zum Reisen im «Büssli».
Mit Jahrgang 1943 habe ich die besten achtzig Jahre erwischt, die es je gab. Keinen Tag plagten uns finanzielle Sorgen, mein Mann und ich hatten als Ingenieur und Lehrerin beide gute Berufe. Wenn ich zurückblicke, sehe ich viel Gutes und Schönes. Obwohl ich auch Schweres durchmachen musste, bin ich voller Glückserinnerungen und Dankbarkeit.
Als Kind war ich ein recht «verwöhntes Bäbeli». Geboren in Köniz, wuchs ich in einem alten Chalet mit grossem Garten auf, das ich sehr liebte und bis heute besitze. Mein Vater führte ein erfolgreiches Maler- und Gipsergeschäft, war Gemeinderat, Präsident des Gewerbeverbandes und genoss hohes Ansehen. Meine Mutter, seine zweite Frau und viel jünger als er, ermöglichte mir alles, was sie selbst als Kind nie machen konnte. Selbstverständlich besass ich einen schönen Wisa-Gloria-Bäbiwagen, in dem ich mein Ruthli spazieren fuhr. Ruth hätte ich selbst gerne geheissen, oder zumindest Katharina oder Kathrin. Aber mein Vater bestand auf Käthi, so steht es auch in meinem Pass.
Während sich mein Vater, der aus erster Ehe vier erwachsene Söhne hatte, abgesehen von schulischen Erfolgen wenig für mich als Nachzüglerli interessierte, war meine Beziehung zur Mutter eng. Von ihr habe ich auch mein schönes Berndeutsch geerbt. Sie stammte aus Burgdorf und sprach ihren Emmentaler Dialekt stets mit Stolz.
In der Berner Tracht am Musikfest
Mehrmals im Jahr fuhren wir in die Ferien, etwa nach Cannes, nach Holland und oft ins Engadin nach St. Moritz. Sonntags besuchten wir häufig Musikfeste, die grosse Leidenschaft meines Vaters. Meine Mutter und ich trugen zu diesen Anlässen jeweils unsere kostbare Berner Sonntagstracht. Bei ihr dauerte das Anziehen fast eine Stunde. Mich sieht man auf dem Foto von 1947 in Riggisberg als kleine Kopie von ihr, bis hin zur Samthaube mit Rosshaarspitze und «Göller-Chötteli». Dieser Silberschmuck war früher ein Zeichen für den Wohlstand der Trägerin. Die Trachten der reichsten Bauerntöchter zierten bis zu acht dieser Kettchen.
Mein Vater hätte mich gern als kaufmännische Angestellte im Familienbetrieb gesehen, aber ich wurde Lehrerin, was schon der Berufswunsch meiner Mutter gewesen wäre. Nach dem Seminar studierte ich am Konservatorium berufsbegleitend Schulmusik und Klavier. Weil Lehrermangel herrschte, mussten wir Seminaristinnen noch vor dem Abschluss ein halbes Jahr in den so genannten Landeinsatz. Ich wehrte mich mit Händen und Füssen gegen einen Ort so «ab der Wält», aber die Zeit im kleinen Weiler Wangelen ob Oberdiessbach gefiel mir schliesslich so gut, dass ich fast sieben Jahre blieb.
Da dort das letzte Postauto bereits um 18 Uhr fuhr, hatte ich bereits mit 19 mein erstes Auto: einen knallgelben «Döschwo», ein schönes altes Exemplar mit Wellblech vorne und Fliehkraftkupplung. Er stand am Anfang meiner Leidenschaft für Autos. Ein solches besassen im Dorf ausser mir nur noch der Käser und der Lehrer.
Pädagogik von anno dazumal
An meinem ersten Morgen in der Dorfschule passte mich mein Kollege von der Oberstufe ab und gab mir Tipps. Das erste Kind solle ich «chläpfe», das zweite an den Haaren reissen und dann alle ein Diktat schreiben lassen, weil die Unterschule der Erst- bis Viertklässler mit 32 Kindern völlig verwildert sei. Frisch ab Seminar hatte ich zum Glück modernere pädagogische Methoden und startete mit Liedern und Versen. Da ich gross bin, eine laute Stimme und genug Selbstvertrauen habe, war Disziplin im Schulzimmer nie ein Problem.
Ich liebte das Unterrichten und lernte viel von den Wangeler Familien auf ihren abgelegenen Höfen. Mir wurde bewusst, wie privilegiert ich aufgewachsen war. Kaum ein Bauer konnte von seinem Gut leben, die meisten arbeiteten als so genannte Rucksackbauern zusätzlich auf dem Bau.
Später baute die Gemeinde ein neues Schulhaus samt grossem Duschraum, damit alle Kinder einmal pro Woche duschen konnten. Damals hatten die wenigsten daheim bereits ein Badezimmer. Leider wurde die Wangeler Schule vor etwa zehn Jahren geschlossen. Die Kinder werden nun für den Unterricht in benachbarte Dörfer gefahren.
Als Lehrerin genoss man früher ein gewisses Ansehen, gleich nach dem Pfarrer und dem Doktor im Dorf. Die alten Leute duzten mich: «Weisch, Lehrere…». Die Kinder hielten sich an die Regeln und waren kaum je krank, wie die Auswertung des «Lehrerrodels» Ende Jahr zeigte. Meinen Lohn erhielt ich teils vom Kanton, teils von der Gemeinde. Letzteres war so wenig, dass ich das Geld alle drei Monate persönlich beim Gemeindekassier abholte. Das gefiel mir so, dass ich bis heute ohne Kreditkarte lebe.
Mit dem VW-Bus Richtung Osten
1967 brach ich mit meinem damaligen Freund, einer Freundin und meinem Cousin zu viert in einem VW-Bus Richtung Nepal auf. Zur Flower-Power-Zeit war diese Route über die Türkei, den Iran, Afghanistan, Pakistan und Indien unter jungen Leuten Mode, auch in der Schweiz. Man konnte stundenlang durch die persische Wüste fahren – traf man auf ein anderes Auto, so hatte dieses oft eine Schweizer Nummer.
Im Rückblick wundere ich mich, wie furchtlos wir waren – und wie naiv. Wir fuhren einfach los, ohne viel Informationen, dabei war diese Weltgegend schon damals nicht ganz harmlos. Die meisten dieser Fahrgemeinschaften zerstritten sich unterwegs heillos. Auch wir wären in Teheran fast umgekehrt.
Im «Khyber Restaurant» in Kabul traf ich unter lauter Hippie-Touristen meinen zukünftigen Mann, einen jungen Ingenieur aus Deutschland, der nach dem Studium auf dem Bau Geld für ein Himalaya-Trekking gespart hatte. Ab Pakistan fuhr er mit uns Richtung Kathmandu. Unsere Liebe begann also im VW-Bus – einer Reiseform, der wir bis heute treu sind. Später kauften wir uns ein etwas komfortableres Fahrzeug. Insgesamt haben wir mehr als vier Jahre in solchen «Büssli» verbracht.
Grosses Glück und schweres Schicksal
Nach der grossen Reise zogen wir zusammen und liessen uns in der Schweiz nieder. Eine neue Stelle zu finden, war damals ein Kinderspiel. Neben der Schule unterrichtete ich Klavier und musikalische Grundschule. Als wir uns Kinder wünschten und keine bekamen, gab ich meinen Beruf auf. Adoptiveltern mussten in den 1970er Jahren noch nachweisen, dass man als Mutter daheimblieb und für die Kinder sorgte.
Wir hatten grosses Glück und konnten zwei Mal ein Baby adoptieren. Aus der Adoption machten wir nie ein Geheimnis, obwohl es damals verboten war, den Kindern etwas über ihre Herkunft zu verraten. Immer am Geburtstag sprachen wir mit den Kindern über ihre Situation. Während sich unser Sohn nie für seine leiblichen Eltern interessierte, ergab sich für unsere Tochter mit fast dreissig Jahren ein schöner Kontakt zu ihrer biologischen Familie.
Adoptivkinder haben aufgrund ihres Schicksals meist einen grossen Stein mehr in ihrem Lebensrucksack, an dem sie oft schwer tragen. So war es auch bei unseren Kindern. Nach all diesen Glückszeiten traf uns das Schicksal schwer: Unser Sohn verstarb mit 29 Jahren, zehn Jahre später verloren wir auch unsere Tochter. Wer dies erlebt hat, weiss: Es ist ein Schmerz, der nie verschwindet. Jeden Morgen und jeden Abend sind meine ersten und letzten Gedanken bei meinen Kindern. Zum Glück konnten mein Mann und ich uns gegenseitig stützen und sind Teil eines grossen Kreises von Menschen, die Ähnliches erlebt haben. Man muss lernen, nicht mit dem Schicksal zu hadern, nicht zu fragen warum – sonst geht man kaputt.
Betrachte ich das unbekümmerte Meiteli auf dem Foto, denke ich: Es ist gut, dass man nicht weiss, was im Leben alles auf einen zukommt. Meine sorglose Kindheit half mir, den Lebensmut auch in dunklen Zeiten nicht zu verlieren.
Aufgezeichnet von Annegret Honegger