34. Frankreich kapituliert Aus «Staatsmann im Sturm»
Auf den 18. Juni hat Hitler kurzfristig Mussolini nach München bestellt. Der Führer ist während der Nacht im Sonderzug aus seinem Hauptquartier in Brûly-de-Pesche angereist. Erstmals seit Beginn des Westfeldzugs zeigt er sich seinen Landsleuten. Eine junge Münchnerin hat den Tag miterlebt:
Führer und Duce in München. Sie besprechen den Waffenstillstand. Heute blieb kein Münchner zu Hause. Morgens um 8 Uhr traten wir am Bahnhof an und stellten das Spalier für den wunderschön geschmückten Bahnhofsbau. Ernst schritt er unsere Reihen ab. Die armen SS-Leute hatten ihre wahre Plage mit uns. Solchen nicht enden wollenden Jubel hat München noch nie gesehen. War es die Freude über das Zusammentreffen des Führers mit Mussolini? War es der Jubel über unsere siegreichen Truppen? Heute bin ich eigentlich nur zum Essen heimgekommen. Zu schön war es in den ersten Reihen zu stehen und alles mitzuerleben. Jetzt ist es nun 10 Uhr; der Führer und Mussolini sind vor kurzer Zeit wieder abgefahren. Ich bin nun rechtschaffen müde.
Hitler ist überzeugt, dass der Krieg im Westen gewonnen ist. Er glaubt, dass England ohne den «Festlanddegen» Frankreich, klein beigeben und mit ihm zu einem Ausgleich kommen wird. Sein Ziel ist zu verhindern, dass die französische Regierung sich nach Nordafrika absetzt und von dort den Krieg weiterführt. Er will die starke, weiterhin intakte französische Flotte neutralisieren, damit sie nicht den Engländern in die Hände fällt. Deshalb will er die Forderungen bei den Kapitulationsverhandlungen nicht zu hochschrauben. Er bringt Mussolini dazu, seine eigenen territorialen Forderungen bis zu den erwarteten Friedensverhandlungen zurückzustellen.
Am Rande kommt Hitler auf die Schweiz zu sprechen. Sie
würde durch einen Gürtel besetzten Gebiets von Frankreich völlig abgeschnitten werden und würde sich dann zu einer entgegenkommenderen Haltung in der Transitfrage sowie ganz allgemein auch in ihrer politischen Einstellung und ihrer Presse bequemen müssen.
Von einer militärischen Aktion gegen die Schweiz ist in der Münchner Besprechung nicht die Rede. Die von Hitler geplante völlige Abschneidung der Schweiz setzt allerdings voraus, dass italienische Truppen in den Alpen so weit vormarschieren, dass sie deutschen Verbänden, die von Lyon aus bis Chambéry und Grenoble dringen sollen, die Hand reichen können. All dies wird die Welt aber erst viel später erfahren. Über den Inhalt der Besprechung Hitler-Mussolini verlautet nichts. Minister Frölicher und Pilet sind auf Vermutungen angewiesen.
Am Nachmittag desselben 18. Juni zieht Churchill im Unterhaus eine schonungslose Bilanz über den bisherigen Verlauf des Kriegs. Seine Schlussworte:
Was General Weygand die Schlacht um Frankreich genannt hat, ist vorbei. Ich nehme an, dass jetzt die Schlacht um Britannien beginnt. Von dieser Schlacht hängt das Überleben der christlichen Zivilisation ab. Von ihr hängt unser eigenes britisches Leben ab und das weitere Fortdauern unserer Institutionen und unseres Empires. Die ganze Wut und Macht des Feinds wird sich sehr bald auf uns richten. Hitler weiss, dass er uns auf unserer Insel zerschlagen muss. Sonst verliert er den Krieg. Wenn wir ihm die Stirn bieten, wird ganz Europa frei bleiben … Scheitern wir, dann wird die ganze Welt, einschliesslich der Vereinigten Staaten, einschliesslich all dessen, das wir gekannt und geschätzt haben, im Abgrund eines neuen dunklen Zeitalters versinken … Besinnen wir uns darum auf unsere Pflicht. Tun wir das Nötige, damit man später einmal sagen wird: «This was their finest hour.»
Immer noch am selben 18. Juni, um 20 Uhr, spricht General Charles de Gaulle über Radio Londres der BBC. Der in Frankreich wenig bekannte, 49-jährige de Gaulle hat als Kommandant einer Panzerdivision erfolgreich den Deutschen Trotz geboten und ist von Reynaud zum Unterstaatsekretär im Kriegsministerium ernannt worden. Er gehört zu jenen Regierungsmitgliedern, die sich einem Waffenstillstand widersetzen. Im Einverständnis mit dem zurückgetretenen Reynaud ist de Gaulle tags zuvor aus Bordeaux heimlich nach London geflogen, um von dortaus die Weiterführung des Kampfs zu organisieren. In seinem Appell ruft er zum Widerstand auf. Noch sei in diesem Krieg das letzte Wort nicht gesprochen, noch sei Frankreich nicht verloren. Er fordert alle französischen Offiziere und Soldaten, die sich in Grossbritannien befinden oder noch dorthin kommen werden, auf, sich mit ihm in Verbindung zu setzen:
Dieser Krieg ist nicht auf unsere unglückliche Heimat beschränkt. Dieser Krieg ist durch die Schlacht von Frankreich nicht entschieden. Dieser Krieg ist ein Weltkrieg. … Was auch geschieht: Die Flamme des französischen Widerstandes darf und wird nicht erlöschen.
Der Appell de Gaulles wird in der Schweizer Presse, wenn überhaupt, nur kurz wiedergegeben. Das ganze Interesse konzentriert sich auf Hitler, Mussolini, Pétain und Churchill. Wie wird es nach dem Treffen in München weitergehen? In der Gazette de Lausanne kommentiert Edmond Rossier:
Die Ereignisse überstürzen sich. Wir sind von der Waffenruhe «unter Soldaten», um die Marschall Pétain nachsuchte, schon wieder weit weg. Französische Bevollmächtigte sind bezeichnet worden. Sie werden – so sagt man in Berlin – nur noch die Bedingungen annehmen müssen, die man ihnen aufzwingen wird. Welches werden sie sein? Wird das allzu grausam malträtierte Frankreich einen verzweifelten Widerstand versuchen? Einstweilen konstatieren wir, dass unser Kontinent eine Umwälzung durchmacht, wie sie die Geschichte – in einer so kurzen Zeit – noch nie registriert hat.
Der 18. Juni, Tag des Münchner Treffens Hitler-Mussolini, Tag der dramatischen Ansprachen von Churchill und de Gaulle, stellt die Schweiz vor ein unerwartetes neues Problem. An der morgendlichen Bundesratssitzung berichtet Bundespräsident Pilet, dass laut Mitteilung des Generals grössere, in «sehr schlechter Verfassung sich befindende» französische Truppenteile um Einlass in die Schweiz bäten. Dieser Wunsch könne angesichts der humanitären Mission der Schweiz und des Präzedenzfalls von 1870, als die «Bourbaki-Armee» ins Land gelassen wurde, «kaum abgelehnt werden». Deshalb habe er, Pilet, seine grundsätzliche Zustimmung gegeben, «wobei selbstverständlich eine vollständige Entwaffnung an der Grenze und nachherige Internierung im Landesinnern zu erfolgen hätte». Pilet hat den General wissen lassen, dass der endgültige Entscheid beim Bundesrat liege. Der Rat ist einverstanden.
Zum Autor
Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997);Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».
Am Nachmittag des 18. Juni begleitet der eben zum Chef von Guisans persönlichem Stab ernannte Hptm. Barbey den General zu Pilets Privatwohnung. Es ist das dritte Mal in zwei Wochen, dass der General von Pilet in seine Wohnung gebeten worden ist. Am Scheuerrain wird er vom halben Bundesrat – Pilet, Minger, Etter und Baumann – erwartet. Zugegen sind auch Logoz und Minister Bonna. Barbey beschreibt die Szene:
Gegen den blendenden Junitag heruntergelassene Storen, friedliche Villaatmosphäre. Durch den undurchdringlichen Zigarrenrauch Gläser und Flaschen. Kontrast der Personen und des Dekors mit den dramatischen Ereignissen, die sich an der Grenze überstürzen, mit der Flut von Flüchtlingen, die beginnen in die Ajoie einzudringen. Diese Ruhe, diese etwas zusammengedrängte Würde, die an ein Bild von [Max] Buri erinnert.
Der General sieht eine doppelte Gefahr für die Schweiz: Einerseits im Norden die ausgedehnten Truppenansammlungen im Schwarzwald, die je nach Verlauf der Schlacht auch versuchen könnten, auf Schweizer Gebiet die rechte Flanke der französischen Streitkräfte zu umgehen. Andererseits im Westen die in Richtung Besançon, Pontarlier zur Schweizer Grenze vorstossenden Panzermassen.
General Heinz Guderian, dessen Panzer im Rekordtempo vorgestürmt sind, ist schon am 17. Juni persönlich in Pontarlier eingetroffen und hat sich die Schweizer Grenze angeschaut. Der französische General Marius Daille muss den Versuch, sich mit seinem 45. Armeecorps dem Jura entlang zu den französischen Alpentruppen durchzuschlagen, aufgeben. Seine Truppen sind eingeschlossen und so ersucht er die Schweizer Behörden, sie aufzunehmen. Fast überall löst sich die Front auf. Die meisten französischen Soldaten sehen nicht ein, wieso sie nach dem Waffenstillstandsgesuch Pétains weiterkämpfen sollen. Im Clos du Doubs allerdings liefern Dailles Truppen – vor allem die 2. polnische Schützendivision und die 7. algerische Spahi-Brigade – den Deutschen einen tapferen letzten Abwehrkampf, einen «Kampf um die Ehre».
In der Nacht vom Mittwoch 19. auf Donnerstag, 20. Juni, überschreitet ein beträchtlicher Teil des Armeekorps Daille am Doubs die Schweizer Grenze. Es handelt sich um schätzungsweise 29 000 Franzosen, 12 000 Polen, mit 5000 Pferden, 1000 Lastwagen, Raupenfahrzeugen, Artilleriegeschützen und weiterem Material. 800 Verwundete werden nach Saignelégier in Spitäler verbracht.
Der Berichterstatter des Feuille d’Avis de Neuchâtel erkennt den Ernst der Stunde:
Wenn sich die Geschichtsschreiber der Zukunft daran machen werden, die dramatischen, schweren und fieberhaften Tage des Vorsommers 1940 nachzuzeichnen, werden sie nur das Wesentliche sagen können. Wir jedoch, die sie miterlebt haben, die wir bis in unser tiefstes Inneres diese tragischen Ereignisse empfunden haben, wissen wohl, dass wir von jetzt an die unsichtbare und schreckliche Last dieser Erinnerung auf immer tragen werden.
Der Reporter beschreibt, wie das ländliche Freiberger Dorf Saignelégier von einer menschlichen Flut überschwemmt wird:
Polnische Soldaten, die von der Schlacht, die sie in Maîche geliefert haben noch ganz warm sind, französische koloniale Spahis, die resigniert und schweigend auf ihren ungestümen arabischen Pferdchen sitzen, Sturmtruppen mit ihren kleinen Raupentanks, die noch vom Schlamm der Argonne bedeckt sind, all dies hastig, flüchtend, abgestumpft – bejammernswert.
Die Soldaten sind verdattert und niedergedrückt. Viele wissen nicht einmal, dass die Deutschen bereits Paris eingenommen haben:
Sie wissen, dass sie besiegt sind, aber können nicht begreifen, wie es gekommen ist. Eine Bemerkung, die oft über ihre Lippen kommt und die schrecklich vielsagend scheint, ist die folgende: «Es fehlte an allem, es war nichts zu machen!» Einer fasst kurz zusammen, was die Zensur uns zu schreiben erlauben wird, weil es vieles verstehen lässt: «Was wollen Sie, die Franzosen haben den Krieg wie im Jahr 1914 geführt, die Deutschen wie im Jahr 1940.»
Für La Suisse fährt René-Henri Wüst ins Seeland und den Berner Jura. Er ist ein Dienstkamerad von Jacques Pilet und wird später «Alerte en pays neutre», ein beachtetes Buch über den Aktivdienst im 2. Weltkrieg verfassen. Die Zensur gestatte ihm nicht – schreibt er ironisch –, «das reizende Städtchen M.» zu nennen, in dem eben «ein grosser Sieg von 1476 über einen gewissen burgundischen Herzog» gefeiert wird. Die dort internierten Soldaten seien beinahe zu müde, um sich schlafen zu legen. Sie hätten gerne Nachrichten von ihren Lieben daheim, die ihnen niemand geben kann. Alle loben die herzliche Aufnahme, die ihnen die Schweizer bereiten. Ein Wachtmeister der Fliegerabwehr, ein Pariser Arbeiter, bemerkt zum Journalisten:
«Eines ist seltsam. Mein Grossvater erzählte mir oft, wie die Schweizer ihn im Jahr 70 aufgenommen haben. Ich dachte nicht, dass dies auch uns zu Teil werde. Ich bin übrigens burgundischer Herkunft. Der Empfang, der unseren Vorfahren 1476 bereitet wurde, war vom jetzigen gewiss verschieden!»
Es gibt auch viele Zivilflüchtlinge. Um die 7500 sind in den letzten Tagen über die Grenze gekommen. Auf Schritt und Tritt begegnet Reporter Wüst menschlichen Schicksalen:
Erschöpfte Kinder weinen, als sie sich auf grosse Säcke hinwerfen. Andere, ältere, ergeben sich in ihr Schicksal und lächeln uns zu. Kinder, Frauen, Greise alle scharen sich um ihr Gepäck. Was ihnen bleibt, ist ihr ganzes verlassenes Leben und ihre ganze Hoffnung … Eine alte Frau – wie hat sie, so zerbrechlich und verrunzelt, die Mühen des Exodus überstehen können? – eine alte Frau, die eine weisse Haube trägt und in einem Militärlastwagen geschüttelt und herumgeworfen worden ist: «Zu sagen, dass ich ‹sie› schon dreimal gesehen habe, im Jahr 70, im 14 und jetzt! Alle Tiere sind auf die Felder gelaufen, die Kirche hat gebrannt. Ah, Monsieur, man würde so gerne bei Ihnen wohnen, nicht wieder von hier weggehen. Jedenfalls, seien Sie sicher, dass wir nie vergessen werden, was die Schweizer für uns getan haben.»
Ein Internierter erzählt Wüst, dass man bei den Deutschen «keinen Hass gegen den Feind» gefunden habe. Frankreich bezahle jetzt für «zwanzig Jahre Irrtümer und Sichgehenlassen»:
Die Verantwortlichen befinden sich bei uns. Alles, was wir von den Deutschen verlangen, ist, dass sie uns unsere Erde lassen. Damit wir uns an die Arbeit machen können.
In Bukarest verfolgt Minister René de Weck am Radio den französischen Zusammenbruch. Tagebuch, 20. Juni:
Ich bin nicht Franzose, wenigstens nicht im politischen und geographischen Sinn des Worts. Trotzdem trifft mich die französische Katastrophe, ohrfeigt mich wie eine persönliche Demütigung. Sie überwältigt mich, erzürnt mich. Ich möchte nicht daran glauben, auch wenn die Beweislage klar ist.
Tags darauf fügt er hinzu:
England bleibt jetzt unsere einzige Hoffnung auf Rettung. Möge ihm ein neuer Nelson gegeben werden, damit wir wieder zu leben beginnen können. Und dann gibt es noch den General de Gaulle.
- Hier gehts zum Nachwort.
- Jeweils sonntags wird der Roman «Staatsmann im Sturm» auf zeitlupe.ch fortgesetzt.
- Diese Kapitel sind bereits erschienen
«Staatsmann im Sturm»
Hanspeter Born, Staatsmann im Sturm. Pilet-Golaz und das Jahr 1940. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 540 Seiten, CHF 32.–. ISBN 978-3-907 146-72-, www.muensterverlag.ch
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Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld
Umschlagsbild: KEYSTONE-SDA / Photopress-Archiv