Mein erster Schritt in die Neuzeit
Für Kinder der 1960er ist die Digitalisierung des Lebens ein immerwährendes Abenteuer – seit Jahrzehnten. Computer, Internet und andere technische Neuerungen stellen sie regelmässig vor Herausforderungen. So auch Zeitlupe-Redaktor Roland Grüter. Er hält Rückschau.
Der erste Versuch, Freundschaft mit Computern zu schliessen, geriet zum Fiasko. Es war in den 1980ern, ich hatte gerade eine Stelle in einem Verlag angetreten und sollte für die Chef-Sekretärin Adressen ausdrucken. Stattdessen löschte ich die 40’000 Anschriften. Ein Klick – ein Volltreffer!
Ich erinnere mich noch haargenau an den Blick der Frau. In ihren weit aufgerissenen Augen war deutlich abzulesen: «Wie konntest Du nur?» In dieser Schrecksekunde war ich mir sicher, dass mein Abstecher ins Verlagswesen nun beendet war. Und damit auch die Liaison mit PCs und anderem modernem Technikkram. Künftig wollte ich die Finger davonlassen. Wider Erwarten liess damals der Verlags-Chef Gnade walten. Ich durfte bleiben. Folglich musste ich lernen, mit PCs und Floppy Disks besser umzugehen.
Die technische Reise ging also weiter, die Hassliebe zu den neuen Technologien aber blieb – genau genommen bis heute. Einerseits schätze ich die damit verbundenen Vorzüge, andererseits führen sie mich zu den immergleichen, nervigen Fragen: Welchen Knopf muss ich nun schon wieder drücken? Weshalb funktioniert das Ding nicht so, wie ich es will? Die Antworten kennen meistens nur die andern. Die Technik lässt mich regelmässig wie einen Deppen dastehen, einen Digital-Deppen. So wie am Anfang unserer Liaison, als ich die Adressen löschte.
Dann kam das Internet: dieser moderne Austausch von Informationen, für den man keine Briefmarke mehr benötigte. 1990 entschied die amerikanische National Science Foundation, das Internet kommerziellen Zwecken und dem Publikum zu öffnen – ursprünglich war es dem Militär und ausgewählten Universitäten vorbehalten. Daraufhin wurde am CERN in Genf das World Wide Web geschaffen. 1993 ging der erste massentaugliche Internetbrowser auf Sendung, ein Jahr später nahmen die ersten Suchmaschinen (Lycos und Yahoo) ihren Betrieb auf.
Und plötzlich redeten alle vom ganz grossen, technischen Coup, der das Wissen demokratisieren und die Zukunft prägen sollte. Ich aber blieb skeptisch und dachte: alles Schall und Rauch. Das Internet schien mir so utopisch wie das Raumschiff Enterprise, das durch die deutschsprachigen Fernsehkanäle und ferne Galaxien rauschte. Ich wünschte mir keine virtuelle Welt, weshalb auch? Die analoge hielt mich genug auf Trab.
Trotz den Vorbehalten erreichte das Internet – welch Wunder – auch mein Leben. Auf meiner damaligen Redaktion wurde in den späten 1990ern der erste, internettaugliche Computer aufgestellt, und ich musste in einem zweitägigen Kurs lernen, wie ich mich im World Wide Web zurechtfinde und was uns dieses bietet. «Sie können im Internet gezielt nach Informationen suchen.» – «Erst müssen Sie eine Adresse eintippen.» – «Merken Sie sich diese Taste. Sie ist Ihr Schlüssel zur virtuellen Welt.»
Wollten wir die Tipps umsetzen, mussten wir uns auf der Redaktion in eine Liste eintragen und den Computer mit Internetanschluss reservieren. Drei Treffer pro Stunde waren ein Riesending. Denn Daten wurden anfangs weit ausgewählter und vor allem langsamer übertragen. 450 Mal langsamer als heute! Was bedeutete, dass man sich nach dem Eintippen der Zieladresse getrost einen Kaffee holen und kurz zur Toilette gehen konnte, bevor der Computer das anvisierte Ziel tatsächlich erreichen konnte. Manchmal schaffte er das auf Anhieb, oft genug aber nicht. Jede Minute kostete extra. Alte Zeiten halt!
Was Kindern meiner Generationen bis heute in den Ohren klingelt: In den Anfangsjahren hatte das Internet eine ureigene Melodie. In den Sekunden, in denen die Verbindung hergestellt wurde, begann die Technik laut zu kratzen und zu krächzen. Die Tonfolge klang in etwa so, als ob eine Zugbremse im Drogenrausch versucht, die Schweizer Nationalhymne zu pfeifen. Markig! Die Tonfolge wurde zum Sound der Zukunft. Auch von meiner.
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© giphy
Das Internet spaltete unsere Redaktion in zwei Gruppen. Auf der einen Seite standen die coolen Technokraten, die das WWW im Sturmlauf eroberten, bald schon die ersten Mails verschickten und mit elektronischen Agenden hantierten. Auf der anderen Seite gabs die Technotanten, die sich mit den Neuerungen schwertaten und auf Hilfe der Coolen angewiesen waren. Ihnen blieb der Zugang zum Internet eine Weile verwehrt. So auch mir.
In der Zwischenzeit finde ich mich in der wilden, weiten Welt der Informationen ordentlich zurecht, doch zurücklehnen kann ich mich trotzdem nicht. Denn wieder stehen wir vor einem Umbruch, Metaverse und Künstliche Intelligenz (KI) bringen neue Herausforderungen! Darin fliessen digitale und analoge Realitäten ineinander. Ich soll zum Avatar werden, mit aufgesetzter VR-Brille durch ferne Länder reisen, mir das pralle Wissen der Computer zu eigen machen. Fans sind davon überzeugt: Metaverse und KI sind der Anfang eines neuen Zeitalters. Die spinnen. Wer braucht denn sowas? Beide werden zu Flops – so, wie ich es vor knapp 40 Jahren dem Internet vorausgesagt hatte. Garantiert!
Total digital
Bereit für eine Reise in die digitale Welt? Im Themenschwerpunkt «total digital» schauen wir nach vorn – aber auch zurück: Wir zeigen, dass Künstliche Intelligenz nicht nur jüngeren Generationen vorbehalten ist, erinnern uns an unsere ersten Erfahrungen mit der digitalen Technologie, zeigen eine innovative Community-Wohnform und kommen mit virtueller Realität hoch hinaus: zeitlupe.ch/total-digital