Alter Meister
Der 80-jährige Dieter Notz studiert an der Zürcher Hochschule der Künste gemeinsam mit lauter 20-Jährigen. Kann das gut gehen?
Text: Claudia Senn, Bilder: Markus Forte
Irgendwann, kurz vor der Pandemie, bekam der 80-jährige Dieter Notz das Gefühl, er werde nun wirklich alt. Früher, in seiner Werbeagentur, hatte er Lehrlinge ausgebildet. Sie hielten ihn auf Trab, brachten ihm bei, wie man einen Computer benutzt und gingen ihm manchmal auch kräftig auf die Nerven, «aber sie brachten Leben in die Bude». Nun fehlte ihm dieses Leben. Sein einziger Enkel, heute 19 Jahre alt, wohnte nicht in seiner Nähe.
Notz wollte wissen, was die Jungen interessiert, ja mehr noch, er suchte die Auseinandersetzung. Er wollte mit den Jungen diskutieren, sich von ihnen die moderne Welt erklären lassen, vielleicht sogar mit ihnen streiten, auf eine interessante, konstruktive Weise. Nur, wo kam er mit ihnen in Kontakt? Notz hatte eine Idee, wie sie nur sehr unerschrockene ältere Leute haben können: Er meldete sich zum Studium an der Zürcher Hochschule der Künste an. Am liebsten wäre ihm ein Master-Studium gewesen, Vollzeit, mit allem Pipapo, doch naiv ist Dieter Notz nicht. «Ich wäre da als 80-Jähriger ein Störfaktor, das ist mir schon klar.» Also begnügte er sich mit einer Weiterbildung.
Erst einmal bekam er keine Antwort. Notz – verschmitzter Blick, markante Art-Director-Brille – rief im Sekretariat an und sagte: «Ich meine das übrigens absolut ernst.» Die Frau am anderen Ende des Telefons blieb freundlich, wunderte sich aber sehr. Notz war der mit Abstand Älteste, der ihr an der Hochschule jemals untergekommen war. Da eine Altersbegrenzung jedoch nicht existierte, sah sie auch keinen Grund, ihn abzulehnen. Dieter Notz wurde aufgenommen, ganz offiziell. Der 80-Jährige zog ein ins Reich der 20-jährigen Jungkünstler.
Im Unterschied zu ihnen hatte er bereits ein langes Leben hinter sich, das ihn auf drei Kontinente geführt hatte. Nach der Lehre dekorierte Notz Schaufenster beim St. Annahof in Zürich. Es war die Zeit, in der es noch keine Schaufensterpuppen gab. Die Kleider wurden hängend präsentiert, und die Schaufenster sahen aus wie Bühnenbilder. Später wurde aus dem Dekorateur ein Grafiker. Ende der 60er-Jahre zog er in die «Motor City» Detroit und machte Werbung für die grossen amerikanischen Automarken – bis die Japaner damit anfingen, billigere Autos zu bauen und die stolze amerikanische Autoindustrie mit Mann und Maus unterging. Notz – inzwischen hatte er Frau und Kind – zog für ein paar Jahre weiter nach Bangkok.
Zurück in der Schweiz gründete er eine eigene Werbeagentur. In den goldenen Zeiten beschäftigte er 12, 13 Angestellte. Doch als zu Anfang des neuen Jahrtausends innerhalb von drei Monaten seine beiden Hauptkunden absprangen, verlor er alles: «Firma weg, Haus weg, Vermögen weg, – ein Desaster». Notz tat, was er immer tat, wenn es nicht nach Plan lief: Er machte einfach mit etwas anderem weiter. Aus dem Grafiker wurde ein Maltherapeut in Alters- und Pflegeheimen. Dass er «kein junger Schnösel» mehr war, sondern ein älterer Mann mit Lebenserfahrung, stellte sich als Vorteil heraus. Als er ins Pensionsalter kam, sah er keinen Grund aufzuhören.
Viele seiner Klientinnen und Klienten sind heute nur unwesentlich älter als Notz, manche übertrifft er auch an Jahren. Die meisten leiden an einer Demenzerkrankung. Notz mag seine Arbeit sehr, doch immer nur über «tempi passati» reden wie mit den Leuten in seiner Maltherapie? Nein, er will den Zeitgeist spüren! «Ich bin ein neugieriger alter Mann», sagt er. Also, ab an die Kunsthochschule.
Dieter Notz liebt den kreativen Humus an seiner neuen Ausbildungsstätte. Aus dem einen Zimmer hört man jemanden Saxophon üben, im nächsten probt eine Gruppe junger Balletttänzerinnen, im dritten wird ein Film vertont – «wunderbar». Doch wird Notz von der Hochschule auch zurückgeliebt? Kommen seine Mitstudenten damit klar, dass er 60 Jahre älter ist? Nehmen sie ihn überhaupt ernst?
Eine erste Antwort lieferte das Kunstprojekt zum Thema Integration, in das sich Dieter Notz mit Verve stürzte, als es nach der Pandemie endlich los ging. Er schrieb Konzepte, malte Plakate, feilte an seinen Ideen. Wie alle Studenten bekam er einen Mentor zugeteilt, der ihn unterstützen sollte: Pascal. Notz schätzt ihn auf Ende 20. «Am Anfang war Pascal sehr schüchtern», sagt Notz, «leicht war es wohl nicht für ihn». Für Notz war es das auch nicht, denn er ist ja mal Chef gewesen, das steckt tief in ihm drin. Nun musste er den Jungen machen lassen, damit eine Begegnung auf Augenhöhe möglich war. Die ungewöhnliche Paarung klappte.
«Ich hatte einen gelungenen Start», findet Dieter Notz nach Abschluss seines Projekts. Als nächstes besucht er die Kurse «Präsentieren, auftreten, sprechen» und «Szenografische Raumgestaltung.» Er hofft, er trifft diesmal die ganz Jungen.
Eine weitere Möglichkeit, mit jungen Leuten in Kontakt zu kommen, ist das Generationen-Wohnen. Lesen Sie dazu unseren Artikel.