© Christian Senti

«Ich lebe mein Leben, wie es mir gefällt»

Denise Biellmann (60) ist die Eiskönigin der Schweiz – seit 55 Jahren steht sie auf Kufen und im Rampenlicht. Sie selbst bezeichnet sich als zurückhaltend, ja sogar als scheu. Ein Widerspruch? Ein Gespräch über ihre laute und stille Seite, über Ruhm und andere Freuden.

Interview: Roland Grüter, Fotos: Christian Senti

Denise Biellmann, vor gut zehn Jahren bestritten Sie zum letzten Mal einen Wettkampf. Vermissen Sie das Rampenlicht?
Nein, kein bisschen. Alles hat seine Zeit. Meine Karriere als Eiskunstläuferin dauerte ein halbes Jahrhundert. In dieser Zeit durfte ich viel Schönes, ja sogar Unglaubliches erleben. Gleichzeitig bedeutete der lange Weg aber auch: ständig Leistung bringen, viel Druck aushalten. Diesen Begleiterscheinungen trauere ich kein bisschen nach.

In Ihrer Biografie schreiben Sie, dass Ihnen die Reaktion des Publikums enorm wichtig war. Fehlt Ihnen der Applaus?
Nein. Ich durfte viele Gänsehautmomente erleben, Momente der Magie! Ich wollte die Menschen mit meiner Kunst, dem Eiskunstlauf, berühren, ihnen meine Emotionen vermitteln – und das ist mir oft gelungen.

Sehen Sie sich denn als Entertainerin? 
Auch. Natürlich ging es mir auch darum, in meinem Fach die Beste zu sein, zu siegen. Doch genau genommen bin ich nie für die Preisrichter gelaufen – mir waren die Zuschauer weit wichtiger. 

«Ich durfte viele Gänsehautmomente erleben, Momente der Magie!»

Denise Biellmann

Seit 2012 betreuen Sie Nachwuchstalente – unter anderem als Coach des Schweizer Eislauf-Verbandes. 
Ja, nun bin ich Trainerin – und staune noch immer etwas darüber. Denn eigentlich hatte ich das immer ausgeschlossen. Doch die Arbeit mit jungen Athletinnen und Athleten macht richtig Spass. 

Was vermitteln Sie der Jugend?
Natürlich helfe ich den Läuferinnen und Läufern vor allem, sich technisch, künstlerisch und athletisch zu verbessern. Doch genau genommen ist Eiskunstlauf-Training, zumindest wie ich es verstehe, eine Lebensschule: Ich zeige den Jungen und Mädchen auf, dass sie im Leben mit Disziplin, Arbeit und Freude viel erreichen können. Dass sie durch den Sport ihren Körper genau kennenlernen, ist sicher auch nicht verkehrt. 

Sind Sie eine strenge Lehrerin? Eiskunstlauf ist für zweifelhafte Trainingsmethoden bekannt, etwa aus Osteuropa.
Streng bin ich schon, aber nie laut oder gar übergriffig. Dazu ist mein Sinn für Verantwortung zu gross. Ich will die Schülerinnen und Schüler unterstützen, sie motivieren – und nicht zusammenstauchen. Ethik muss im Sport immer gegeben sein – und in der Ausbildung von Talenten sowieso.

Was war für Sie unter dem Strich wichtiger: Freude oder Gold? 
Das eine führt zum anderen. Ohne Freude kein Gold. Schliesslich muss man im Sport einiges in Kauf nehmen. Der Weg an die Spitze ist dornig und lang.

Sie hatten unzählige Auftritte vor ganz grossem Publikum. Wenn der Vorhang fällt, ist jede Entertainerin mit sich allein. Wie erging es Ihnen in solchen Momenten?
Nicht immer gut. Ich erinnere mich beispielsweise ans Premierenjahr bei Holiday on Ice. Ich trat vor 18 000 Menschen auf und war danach ganz allein. Meine Familie konnte erstmals nicht mitreisen, die anderen Sportlerinnen und Sportler wollten mit mir – dem Star der Revue – keinen Kontakt. Ich war jung, sie sahen in mir eine Fremde, eine Konkurrentin. Ich sass folglich oft allein in meiner Garderobe oder im Hotelzimmer. An einen Moment erinnere ich mich besonders: Ich sass an meinem 18. Geburtstag irgendwo in Deutschland allein in einem Restaurant und ass mein Birchermüsli. Ich fühlte mich einsam und verlassen. Solche Momente gab es manche.

Wie haben Sie es dennoch geschafft, zur Strahlefrau zu werden?
Durch mentales Training. Vor jedem Auftritt, ob auf oder neben dem Eisfeld, musste ich lernen, meine Verlegenheit wie einen Mantel abzulegen. Dafür besuchte ich in jungen Jahren sogar Schauspielunterricht. 

Klingt anstrengend.
War es aber nicht. Fröhlichkeit, Optimismus, meine unkomplizierte Art sind schon Züge, die die private Denise ausmachen. 

Was unterscheidet die private von der öffentlichen Denise?
Der Look, Äusserlichkeiten. Ich bretzle mich jeweils für meine Aufritte gehörig auf. Zu Hause laufe ich immer ohne Make-up herum, easy going halt. 

Viele Rockstars zerbrechen zwischen der Öffentlichkeit und ihren eigenen Ansprüchen. Weshalb Sie nicht?
Wir reden von Spitzensport. Dieser ist nur dann möglich, wenn man topfit ist. Will heissen: keine Drogen, keine durchzechten Nächte. Obwohl ich durchaus für Spässe und Dummheiten aller Arten zu haben war.

Was hat Sie denn von Eskapaden abgehalten: Selbstdisziplin?
Ich denke schon. Ohne Selbstdisziplin geht es im Spitzensport nicht. Ich hatte erst gar nie das Gefühl, auf etwas verzichten zu müssen. Im Gegenzug bekam ich ja enorm viel geschenkt. Einsatz und Ertrag stimmten schon. 

«Ich bin eine, die sich gerne Herausforderungen stellt und nach Lösungen sucht, statt Missstände zu bejammern.»

Denise Biellmann

Wenn nicht Drogen: Was half Ihnen damals, über die einsamen Momente hinwegzukommen?
Ich wurde zwar krank, musste kürzertreten. Aber: Ich bin eine, die sich gerne Herausforderungen stellt und nach Lösungen sucht, statt Missstände zu bejammern. Will heissen: Ich lernte, mit dem Druck der vielen Vorstellungen besser umzugehen und flog möglichst oft nach Hause. Schliesslich kam eine Freundin ins Ensemble von Holiday on Ice. Damit wurde aus der Einsamkeit eine Zweisamkeit. 

Sie schreiben in Ihrer Biografie, dass Sie in der Kindheit ein Mami-Titti waren. Ist Ihre Mutter noch immer Ihr wichtigster Lebensmensch?
Durchaus. Ich verdanke ihr vieles, wenn nicht alles. Sie war es auch, die mich zum Eiskunstlauf gebracht hatte, ohne mich je dazu zu drängen.

Wie ist das möglich?
Eigentlich wollte Mami in ihrer Kindheit selbst Läuferin werden, sie konnte aber nicht: die Nachkriegsjahre! Also ging sie später regelmässig eislaufen und nahm mich und meine Schwester mit. Wir waren beide sofort Feuer und Flamme für diesen Sport. 

Denise Biellmann im Interview mit der Zeitlupe
© Christian Senti

Wie alt waren Sie damals?
Drei. Mit sechs Jahren begann ich ernsthaft zu trainieren. Ich übte täglich zwei Stunden und bevor ich richtig schreiben konnte, zeichnete ich meine erste Kür auf: mit Biruwete und Flugi. 

Was, wenn Ihre Mutter Tennis gespielt hätte?
Ob ich dann zur frühen Martina Hingis geworden wäre? Nein, garantiert nicht. Eiskunstlauf passt perfekt zu mir. Andere müssen ein Leben lang nach ihrer Passion suchen, ich entdeckte sie bereits vor dem Kindsgi. Das hat mich enorm viel Energie gespart – und mir unendliches Glück beschert. 

Hatten Sie nie Bock darauf, auszubrechen, etwas ganz anderes zu machen?
Nein, nie. Es gab zwar Momente des Zweifelns, aber den Weg stellte ich nie in Frage.

Was lieben Sie am Eiskunstlauf besonders?
Dieses Gefühl, schwerelos über das Eis zu gleiten. Diese ungemeine Leichtigkeit des Seins, in der für Momente alle Sorgen vergessen gehen. 

Zur Person

Denise Biellmann (60) ist noch immer die erfolgreichste Eiskunstläuferin der Schweiz. Sie gewann knapp 18-jährig den ersten WM-Titel, wurde in der Folge elffache Profiweltmeisterin. Sie trat in Eisrevues auf, tourte rund um die Welt. Sport macht noch immer einen wichtigen Teil ihres Lebens aus – sie steht im Winter fast täglich auf dem Eis, unter anderem als Trainerin. Selbst die legendäre Biellmann-Pirouette schafft sie noch, wenn auch nur noch mit einer Hand an den Kufen. Im letzten Jahr hat die Zürcherin ein Buch über ihr bisheriges Leben geschrieben: «Denise Biellmann – Die Biografie» ist im Cameo Verlag erschienen.

Sehen Sie Ihre Mutter noch heute regelmässig?
Oh ja. Mami ist mittlerweile 92 Jahre alt und auf Stöcke angewiesen, doch sie ist noch immer vif. Ich besuche sie mindestens drei-bis viermal in der Woche, wenn nicht täglich. Wir verbringen jeweils die Morgen zusammen. Das tut ihr gut, mir aber auch. Unser enger Kontakt ist mir heilig.

Was bewundern Sie an ihr?
Ich mag ihre Direktheit, ihre Lebensfreude. Sie lebt mir vor, dass man selbst im hohen Alter offen und informiert sein kann. Und, dass man sein Leben bis ans Ende so leben soll, wie es einem passt – und nicht, wie es andere von einem erwarten. 

Sie stehen seit 50 Jahren in den Schlagzeilen der Presse. Wie kam es dazu?
Mit zehn bestand ich den Goldtest. Mit elf Jahren gewann ich erstmals die Junioren-Schweizermeisterschaften, im selben Jahr beherrschte ich schon die ersten Dreifach-Sprünge. Damals wurden die Medien auf mich aufmerksam. Richtig los ging es aber mit meinem Weltmeistertitel, den ich in Hartford gewann. Es gab Zeiten, da war jede Woche im «Blick» eine Story über mich zu lesen.

«Es gab Zeiten, da war jede Woche im «Blick» eine Story über mich zu lesen.»

Denise Biellmann

Wie das?
Der damalige Chefredaktor hatte einen Redaktor angewiesen, mich jeden Tag anzurufen, um mir etwelche News abzuringen.

Sie hatten ja auch einiges zu erzählen. 
Stimmt. Manchmal kann ich noch heute schwer fassen, was in meinem Leben passiert ist. Ich stamme aus bescheidenen Verhältnissen. Glamour, Make-up und falsche Wimpern spielten in meiner Familie keine Rolle. Und plötzlich war ich an einer Pool-Party mit ABBA oder Boney M. Oder durfte vor der britischen Queen und in den grössten Fernsehshows der Welt auftreten. Ein Wahnsinn!

Ihnen wurde unter anderem ein Verhältnis mit Sänger Udo Jürgens angedichtet. Wie kam es dazu?
Udo hatte mir zu meiner Kür an den Olympischen Winterspielen in Lake Placid gratuliert – mit einem handgeschriebenen Brief. Daraufhin verabredeten wir uns zu einem Essen. Mehr aber war da nicht.

Bereuen Sie es, dass Sie durch die ständige Medienpräsenz zur gläsernen Frau wurden?
Kein bisschen. Ich habe ja selbst einiges dazu beigetragen. Ich tanzte beim Eurovision Contest, sang bei The Masked Singer Switzerland, war generell für vieles zu haben. Hauptsache Spass! Mir war es egal, was andere über mich und meine Aktionen dachten. Das mache ich noch immer gern: ausbrechen, etwas tun, was nicht konform ist. 

Man könnte daraus auch lesen: Denise Biellmann will auffallen.
Gut möglich. Aber ich weiss, dass es anders ist, dass ich es für mich tue, nicht für andere. 

Vor kurzem war in der Presse ein Bild von Ihnen zu sehen, auf dem Sie Bikini tragen. Was wollen Sie damit den Menschen sagen?
Nichts. Das Bild machte mein Mann Colin in den Ferien und postete es auf Instagram. Eine Redaktion fragte an, ob sie das Foto abdrucken dürfe. Weshalb sie das Porträt im Bikini interessant finden, müssen Sie die Verantwortlichen fragen.

Wahrscheinlich wollten sie zeigen, dass Frauen mit 60 noch immer eine Top-Bikini-Figur haben können. Ein Adelsschlag für Ihr Ego?
Ich bin zwar stolz auf meinen fitten Körper und fühle mich darin pudelwohl – herzeigen muss ich ihn aber nicht. Und falls andere daran auch Gefallen finden sollen, ist das auch nicht weiter schlimm. Man muss mit 60 ja nicht zwingend schrumpelig sein. Das sollte mittlerweile bekannt sein, früher war das anders. 

«Offenbar haben die Menschen erkannt, dass man in jedem Alter das tun darf, worauf man Bock hat. Das ist doch prima.»

Denise Biellmann

Inwiefern?
Als ich vor zehn Jahren in einem bauchfreien Top an der Street Parade tanzte, wurde ich von vielen gemassregelt. So was ziemt sich nicht mit 50, die spinnt doch, die Alte! Das Bikini-Bild hingegen hat mir nicht eine einzige negative Kritik eingetragen. Offenbar haben die Menschen erkannt, dass man in jedem Alter das tun darf, worauf man Bock hat. Das ist doch prima.

Fühlen Sie sich denn wie 60?
Ich nehme die Zahl zur Kenntnis. Wie sie sich anfühlt? Keine Ahnung, so wie Mitte 40. Zumindest nicht so, wie es wahrscheinlich andere von einer 60-Jährigen erwarten. 

Welchen Massstab setzen Sie selbst an?
Meine Freude. Ich lebe mein Leben, wie es mir gefällt: Ich bin noch immer für Blödsinn zu haben und schätze im Gegenzug die Lebenserfahrung, die sich in den vielen Jahren angehäuft hat. Dieser Mix lässt sich mit keiner Ziffer benennen. 

Sind Sie jemals in Versuchung geraten, die tickende Uhr zurückzudrehen – etwa mit Schönheits-Operationen?
Noch nicht – vielleicht in späteren Jahren, ausschliessen will ich das nicht. Ich bin mit meinem Körper derzeit aber rundum zufrieden. Ich trainiere ja auch regelmässig, um diesen in Form zu halten. Viel Bewegung, viel Schlaf, gesunde Ernährung. Wer gut altern will, muss wohl gut leben. 

Welche Erwartungen haben Sie an die Zukunft?
Keine. Ich vertraue darauf, dass es das Schicksal weiterhin gut mit mir meint.

Im Video «5 Fragen an…» erfahren Sie, was Denise Biellmann – neben dem Eiskunstlauf – besonders gut kann und was gar nicht.

Beitrag vom 10.10.2023