Raus aus der Komfortzone! Wir probieren neue Dinge aus. Diesmal: Zeitlupe-Redaktorin Annegret Honegger speist im Restaurant «blindekuh» in Zürich. Licht aus – Erlebnis an!
Text: Annegret Honegger
Wie schmeckt wohl so ein Dinner im Dunkeln? Wie isst es sich, ohne zu sehen, was in den Mund wandert? Solche Fragen gingen mir oft durch den Kopf, wenn ich mit dem Velo am Restaurant «blindekuh» im Zürcher Seefeld vorbeifuhr. Nun endlich betrete ich mit Gatte und Gottenbuben die ehemalige Kirche, in der seit 1999 Sehende von blinden und sehbehinderten Mitarbeitenden bedient werden.
Eine dieser «Dunkel-Profis» ist Janine, die uns heute begleitet. «Haltet mich an den Schultern fest. Ich bringe euch per Polonaise an euren Tisch», instruiert sie. Hinter ihr betreten wir durch einen ersten und einen zweiten Vorhang das Restaurant – und damit die völlige Finsternis. Zappenduster ist es. Pechschwarz. Eben: dunkel wie in einer Kuh.
Alles, was leuchtet, mussten wir an der Reception zurücklassen. Handys, Smartwatches und das Fitnessarmband. So finden meine Augen nicht den kleinsten Lichtschimmer im Raum. Die Dunkelheit verschluckt alles, woran wir uns sonst so selbstverständlich orientieren.
Unsicher setze ich Fuss vor Fuss. Ich bin froh, führt mich Janine zu meinem Stuhl und erklärt mir, wo sich mein Glas und mein Besteck befinden. Es hilft auch, um mich herum vertraute Stimmen zu hören. Unsere Anstossversuche im Dunkeln sehen wahrscheinlich aus, als hätten wir bereits ordentlich gebechert. Dem Gelächter nach geht es anderen Gästen genauso.
Wir lassen uns kulinarisch überraschen und bestellen vier Mal Menu Surprise. Das Amuse-bouche, das Janine in kleinen Schälchen serviert, stellt den Geruchs- und Geschmackssinn auf eine erste Probe. Eine knusprige Kugel mit würziger Füllung: ein Falafelbällchen? Eine Pilzkrokette? Danach folgt Salat mit … Randen! Das ungeliebte Gemüse erkennen unsere Teenager auf Anhieb. Aber was sind die weichen Schnitze und welche Art Nüsse kosten wir hier? Erstaunlich, wie verloren ich mich fühle, wenn das Auge für einmal nicht mitisst.
Nach der ersten Aufregung schliesse ich die Augen und geniesse mit meinen übrigen vier Sinnen die Geschmackserlebnisse, die uns die Küche schickt. Dort, lese ich später, arbeiten Sehende, die Wert darauf legen, dass sich die Teller trotz Dunkelheit auch optisch sehen lassen könnten.
Die Jungs freuen sich, dass für einmal niemand schimpft, wenn sie nicht gerade sitzen, die Ellbogen aufstützen oder das Messer abschlecken. Mir fehlt beim Dessert plötzlich meine Serviette, bis ich mit dem Fuss etwas Weiches spüre. Anderen, erzählt jemand am Nebentisch, soll es gleich ergangen sein, allerdings mit einem Entrecôte …
Wir gestehen einander: Um die letzten Bissen im Teller zu finden, mussten wir mit den Fingern nachhelfen. Die Dunkelheit verzeiht uns solche Fauxpas – anders als blinden Menschen, die sich ständig beobachtet wissen, wenn sie sich unter Sehenden bewegen. Hier im Dunkeln sind sie für einmal die Fachleute und wir Sehende auf ihre Hilfe angewiesen.
Wie im Flug vergehen zwei Stunden – ohne den Blick auf die Uhr habe ich das Zeitgefühl völlig verloren. Janine begleitet uns zurück zur Reception. «Nehmt euch Zeit», rät sie. Tatsächlich fühle ich mich vom gedämpften Licht anfangs fast geblendet. Und wir staunen beim Blick auf den Menüzettel, was wir heute gegessen haben.
Die «blindekuh» hat uns fein bewirtet – und uns die Augen geöffnet für die Herausforderungen, mit denen blinde und sehbehinderte Menschen tagtäglich konfrontiert sind. Anders als wir können sie nicht einfach nach zwei Stunden wieder das Licht anknipsen.
Die Stiftung blindekuh will das gegenseitige Verständnis zwischen Sehenden und Nichtsehenden fördern. Dunkelrestaurants führt sie in Zürich und Basel: blindekuh.ch, Telefon 044 421 50 50.
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