© Pia Neuenschwander

«Der glühende Kern des Liebeskummers ist immer derselbe»

Nach einem halben Jahrhundert als Paartherapeut zieht Klaus Heer Bilanz. Über die Beziehungsprobleme der Schweizerinnen und Schweizer, über seine eigenen gescheiterten Ehen und über seine streng katholische Erziehung, von der er sich erst einmal freistrampeln musste.

Interview: Claudia Senn, Fotos: Pia Neuenschwander

Klaus Heer, warum haben Sie sich damals als junger Mann entschieden, Paartherapeut zu werden?
Eigentlich hätte ich Priester werden sollen. Ich bin nämlich als ältestes von zwölf Geschwistern in einer beinahe mittelalterlich-erzkatholischen Welt aufgewachsen. Es gab bei uns keine Bücher, keine Musik, keine Kultur. Nur sieben Kühe, Obstbäume, den Familienjass am Sonntagnachmittag. Und natürlich den lieben Gott und meine Ministranten-Hingabe. Im Gymnasium kam mir dann vor lauter Nietzsche und Kafka der Glaube abhanden. Schon vor der Matura war mir klar: Mann und Frau sind mein Lebensthema.

Hatten Sie bestimmte Erwartungen an den Beruf?
Ich wusste so gut wie nichts über Beziehungspsychologie, war wie eine blinde Sau, die eine Eichel findet. Zufällig. Seither brennt ein namenloses Feuer in mir.

Nach Ihrer kärglichen Jugend hatten Sie wohl Appetit auf eine Horizonterweiterung.
Insgeheim lauerte ich auf die erstbeste Fluchtmöglichkeit. Ich wollte alles hinter mir lassen: Eltern, Geschwister, Heim und Hof, die Glaubens-Enge, die Schweiz. Ich floh zum Psychologie-Studium nach Hamburg. Dort war ich sehr einsam und überfordert. Intellektuell sogar restlos überfordert.

Wie haben Ihre Eltern darauf reagiert, dass Sie nicht den Weg eingeschlagen haben, den sie für Sie vorgesehen hatten?
Mein Vater klemmte mir die finanzielle Unterstützung ab. «Wenn du selbstständig sein willst, dann seis!», sagte er. Meine Mutter weinte viel und beschwor mich, um Gottes willen das Beten nicht aufzugeben.

Konnten Sie sich in Hamburg denn finanziell über Wasser halten?
In den Semesterferien reiste ich in die Schweiz, wusch in der Brauerei Eichhof Bierflaschen, ging für Ringier von Tür zu Tür und verkaufte Heftli-Abos, später vertrat ich Primarlehrer, die im WK waren. Das reichte für das Zimmer im Hamburger Studentenheim, die Studiengebühren und die schockbillige Erbsensuppe in der Mensa. Mein Kassenbuch liegt immer noch im Schrank. Durchschnittlicher Verpflegungsaufwand pro Tag: 2 Mark 49.

Haben Sie mit Ihrer Familie später wieder Frieden geschlossen?
Versöhnung ist die Aufgabe des Sohnes – darum heisst das Ganze ja «Ver-söhnung». Das gilt natürlich auch für Töchter. Es hat ein paar Jahre gedauert, bis ich realisierte, dass mich mein Vater knallhart zur Selbstständigkeit gezwungen hat. Damit tat er mir auch einen Gefallen. Meine Mutter hielt treu zu mir, auf ihre nicht sehr prickelnde Weise. Für diesen grossen Aufwand bin ich beiden dankbar.

Erkenntnis ist eigentlich nur unter Schmerzen zu haben.

Wann haben Sie sich zum ersten Mal verliebt?
In meinem dritten Hamburg-Jahr lernte ich im Luzerner Hinterland eine junge Lehrerin kennen, die ich für sechs Wochen in der Schulstube vertrat. Sie fand ebenso Gefallen an mir wie ich an ihr. Bei mir machte sich sofort eine Art Panik breit: Ich muss unverzüglich zupacken und die Frau heiraten, sonst bleibe ich meiner Lebtag unbeweibt! Schon nach einem halben Jahr stellte sich aber heraus, dass ich mich geirrt hatte. Wenig später waren wir geschieden.

Der «Paartherapeut der Nation» war in der Liebe also kein Naturtalent.
Haha! Ihr schwarzer Humor trifft den Nagel auf den Kopf. Ich bin allerdings nicht sicher, ob es das überhaupt gibt, dieses «Naturtalent». Selbst Pablo Picasso schüttelte seine wunderbaren Bilder nicht aus dem Handgelenk. Bildende Kunst ist ebenso strapaziös wie die Kunst des Liebens.

Fühlt man sich als geschiedener Paartherapeut besonders schlecht? Schliesslich hat man mit seinem Expertenwissen im eigenen Leben versagt.
Stellen Sie sich vor, ich bin sogar ein zweimal geschiedener Paartherapeut! Die erste Scheidung während meiner Ausbildung, die zweite 45 Jahre später. Heisst: zweimal gnadenlose Weiterbildung in Sachen Flüchten oder Standhalten. Scheidung ist das schöpferischste Versagen, das einem als Paartherapeut passieren kann. Erkenntnis ist eigentlich nur unter Schmerzen zu haben.

Portrait von Klaus Heer im Wald
© Pia Neuenschwander

Was haben Sie aus Ihren gescheiterten Ehen gelernt?
Ich kenne Scheidung jetzt nicht nur vom Hörensagen. Ich bin selbst durch die Hölle gegangen, auf einen biografischen Neustart zu. Das erlebt zu haben, ist gut. Manchen Paaren in Not fehlt nämlich die notwendige emotionale Fantasie. Ich sehe das immer wieder, wenn sie sich mit Scheidung drohen. Einige bleiben dann in dieser Vorhölle stecken.

Hat Ihnen Ihr Fachwissen während Ihrer Ehekrisen etwas genützt, oder standen Sie genauso am Berg wie alle anderen auch?
Fachwissen ist gut und recht. Aber wenns hart auf hart kommt, erweisen sich diese Instrumente als nicht wirklich tauglich. Niemand kann sich an der eigenen Frisur aus dem Sumpf ziehen.

Wann ist eigentlich der richtige Moment, um eine Paartherapie zu beginnen? Die meisten kommen erst, wenn schon alles in Trümmern liegt, stimmts?
Stimmt nicht. Studien belegen zwar, dass die meisten Paare ungefähr fünf problematische Jahre verstreichen lassen, bis sie sich eine Begleitung organisieren. Aber das ist genau der richtige Moment: wenn die beiden oder einer von beiden es nicht mehr aushalten. Mit «Trümmern» hat das nicht viel zu tun.

Haben sich die Paare vor fünfzig Jahren die Zähne an anderen Dingen ausgebissen als heute?
Nein. Der glühende Kern des Liebeskummers ist immer derselbe. Höchstens die äusserlichen Einzelheiten haben sich etwas verändert.

Worin besteht dieser Kern?
Oberflächlich betrachtet geht es um lauten Krach oder stumme Wüste. Um interne sexuelle Not oder externen erotischen Ersatz – sprich Vertrauensdebakel. Um Krieg – heiss oder kalt – wegen Kindererziehung, Geld, Freizeit, Verwandten, Ungleichgewicht bei der Bewältigung der unbezahlten Haus- und Familienarbeit und so weiter.

Paartherapeut der Nation

Klaus Heer wurde 1943 als erstes von zwölf Kindern in einer Bauernfamilie in der Innerschweiz geboren. Nach dem Psychologie-Studium in Hamburg und Bern eröffnete er 1974 eine Praxis als Paartherapeut. Durch seine Radiosendungen, Zeitungskolumnen und Bücher avancierte er rasch zum Paartherapeuten der Nation. Sein Erfolgsrezept: Heer war stets glasklar in der Sache, milderte allzu triste Erkenntnisse jedoch immer mit einem Quäntchen Humor ab. In seiner Berner Praxis empfängt er bis heute Klientenpaare. Es sind immer Paare, niemals Einzelpersonen.

Mehr Infos finden Sie auf der Website klausheer.com.

Sie sagten: «oberflächlich betrachtet». Was entdecken Sie unter der Oberfläche?
In der Tiefe hockt ein wirklich bedenklicher Webfehler, der die Überlebensfähigkeit der Liebe gefährdet: Wir haben groteske Fehlerwartungen an die «Liebe». Wir setzen Liebe gleich mit Glück. Ich bin in Paar-Dingen ja wirklich abgebrüht wie kaum jemand sonst, aber selbst ich muss mich immer wieder wachrütteln, um diesem Zuckerkitsch nicht auf den Leim zu gehen, indem ich den Auftrag der Paare annehme, ihnen doch bitte, bitte zu helfen, zusammen wieder glücklich zu werden. Wie einst im Mai.

Was machen denn Paare richtig, die über lange Zeit miteinander glücklich sind? Es gibt sie ja.
Die Nachricht, dass es glückliche Paare tatsächlich gibt, ist natürlich Teil dieser weltumspannenden Liebesideologie. Die tut uns nicht gut. Sie setzt uns unter Druck. Was machen die «glücklichen» Paare richtig, und was machen wir falsch? Der giftige Wurm sitzt in dieser Frage.

Das klingt, als ob es für Sie gar keine glücklichen Paare gäbe.
Bingo!

Wir haben groteske Fehlerwartungen an die «Liebe».

Ganz schön pessimistisch für einen Paartherapeuten.
Ganz schön realistisch für einen Paartherapeuten. Ich drücke es mal so aus: Es gibt Paare, die glückliche Augenblicke erleben. Aber Paar-Sein ist kein Ponyhof.

Das Problem liegt also darin, dass wir unsere Liebesbeziehungen mit viel zu hohen Erwartungen überfrachten?
Präzis so ist es. Und wenn es nicht hinhaut mit dem Glück … dann bist du schuld. So einfach ist das. Und so daneben.

Was kann, was sollte man denn von einer Beziehung erwarten?
«Lieben heisst, sich mit der Wirklichkeit begnügen». Punktgenauer als der polnische Schriftsteller Stefan Napierski kann ich das nicht ausdrücken. Deine und meine Wirklichkeit müssen Platz haben unter unserem gemeinsamen Zweisam-Dach. Das ist anspruchsvoller und beglückender, als es klingt.

Den meisten Paaren ist bloss eine kurze Phase gloriosen Verliebtheits-Sexes vergönnt, bevor im Bett Routine einkehrt. Sollte man sich damit auch einfach begnügen?
Das sollten Sie nicht mich fragen. Sondern mit Ihrem Partner besprechen.

Sie sind hier doch der Experte.
Ja, das bin ich. Und als Experte bin ich verpflichtet, mich unbeliebt zu machen, indem ich die Fehlerwartungen meiner Klientenpaare sehenden Auges enttäusche. Ich muss dem Paar das Offensichtliche nahelegen: Die wahren und einzigen Sachverständigen in Sachen Beziehung
und Liebe sind sie zwei. Sie leben seit Jahren zusammen und wissen eine Million Mal mehr über sich als ich. Ich bin bloss der Moderator, der sie dazu verführt, sich beherzt wahrzunehmen und das Wahrgenommene ebenso mutig zu formulieren.

Können neue Liebeskonzepte wie offene Beziehungen oder Polyamorie eine schal gewordene Ehe wiederbeleben?
Nein. Weil Sie damit die Chance vertun, sich klar zu werden, was Ihre Ehe tatsächlich schal macht. Das finden Sie nur heraus, wenn Sie hartnäckig-neugierig diese Schalheit untersuchen. Zusammen mit Ihrem Partner, versteht sich. Eine expansive Personalpolitik ist da wenig förderlich.

Klaus Heer
© Pia Neuenschwander

Lassen Sie uns noch einmal vom Allgemeinen aufs Persönliche kommen: Wie blicken Sie als 80-Jähriger auf Ihr Leben zurück? Sind Sie der geworden, der Sie gerne sein wollten?
Befremdliche Frage. Ich wollte nie jemand sein, der ich noch nicht bin. Manchmal zwingen mich enge Freunde zum Blick in den Rückspiegel. Dort sehe ich eine grössere Reihe von biografischen Fehlentscheidungen. Aber das beeindruckt mich nicht gross. Im Gegensatz zu dem, was mir bevorsteht,
als Greis.

Wie meinen Sie das?
Ich bin gerade 80 geworden, bin Krebsüberlebender und habe todsicher Schwieriges zu erwarten. Mit «Exit» habe ich mir seit langem einen Notausgang organisiert, falls ichs nicht mehr aushalte. Aber heute lebe ich in vollen Zügen. Als Fachmann, Partner, Vater, Grossvater, Freund – und Klaus Heer.


Das Pingpong mit Klaus Heer fand per E-Mail und WhatsApp statt – Frage für Frage, Antwort für Antwort. So hat Klaus Heer sich das gewünscht.

Beitrag vom 12.02.2024