Georg Preusse mimte einst auf der Bühne die perfekte Frau. In der Rolle als Mary erfand er die Travestiekunst neu und verknüpfte Unterhaltung mit dem Ernst des Lebens.
Text: Roland Grüter
Er war ein Bild von einer Frau. Fast ein halbes Jahrhundert stand Georg Preusse mit unendlich langen Beinen und humorvollem Schalk auf den Bühnen des Showbiz und liess manchen Kerl im Publikum von wilden Nächten träumen – bevor er am Ende jeder Show aus den Stilettos stieg, sich im Rampenlicht abschminkte und wieder zu jener Person wurde, die er eigentlich war, Georg. Dazu sang er den legendären Frank-Sinatra-Song «So leb Dein Leben», als wolle er dem Publikum Mut machen, aus dem grauen Trott auszubrechen und stattdessen Wege ins Glück einzuschlagen. Die divenhaften Allüren wurden gefeiert, Georg Preusse füllte in Deutschland, Österreich und der Schweiz die grössten Spielsäle. Er bekam eigene Fernsehshows, trat in Samstagabendkisten auf wie «Wetten, dass …» und trug die Travestie aus dämmerigen Schwulenclubs ins Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit.
Eine Bilderbuchkarriere! Hinz und Kunz beklatschten Mary, obwohl sie zwischen den Geschlechtern stand. Das ist bemerkenswert, ja sogar erstaunlich: Denn die Moral der 1980er-Jahre liess sonst Subkulturen wenig Raum und verweigerte sich damit auch der Homosexuellen-Szene. Manchmal bekam auch Mary einen Sprutz des damaligen Sittenverständnisses ab. Eine Frau in Köln stand bei einem ihrer Auftritte auf, spuckte auf die Bühne und polterte: «Du bist des Teufels.» Und ein Oberbürgermeister eines deutschen Kaffs verbot ihr sogar den Auftritt mit den Worten: Der Schund und Schrott der Grossstadt kommt nicht zu uns. «Gott sei Dank ist die Welt mittlerweile offener und toleranter geworden», sagt Georg Preusse, «wenngleich wir aktuell ein Comeback der Dummheit erleben. Wir müssen zu diesen Werten Sorge tragen, denn sie stehen gerade weltweit wieder auf dem Prüfstand.»
Heute sitzt Georg Preusse ungeschminkt in einem Café in Hinwil im Zürcher Oberland. Er ist mittlerweile 73 und trägt eine Regenjacke statt Glitzerfummel, denn draussen hudelt der Winter durch die Strassen. Der Mann fällt nicht sonderlich auf: Hose, Hemd, ein goldenes Kreuz im Ausschnitt. Einzig seine Stimme erinnert an Mary, sein glamouröses Alter Ego, mit dem er einst von Stadt zu Stadt zog. Denn die rauschenden Kleider hat Georg Preusse längst eingemottet und Mary 2010 in Rente geschickt. Weil Klassefrauen im Rampenlicht schlecht altern? «Nein», sagt George Preusse. «Es lag nicht an Mary, sondern an mir», sagt er und nippt an seinem Cappuccino.
Irgendwann hatte es Georg Preusse über, ständig unterwegs zu sein, der Erfolg wurde zur Last. Schliesslich musste er sich Abend für Abend zur Decke strecken, damit die Säle und die Kassen gefüllt blieben. «Der Druck wurde zu gross, deshalb kam ich nach einem Auftritt in München zur Einsicht: Es ist an der Zeit, dass der Vorhang fällt und ich in ein neues Leben starte.» Er trat ab, ohne sich wirklich von der Bühne zu verabschieden. Dann und wann ist er noch in Theaterstücken zu sehen, aber ausschliesslich in Männerrollen. Seit 1978 lebt er zusammen mit seinem Manager und Lebenspartner Jacky Amsler im Zürcher Oberland.
Natürlich sitzt auch Mary am Tisch in Hinwil. Georg Preusse spricht von ihr wie von einer alten, vertrauten Freundin, die er schon länger nicht mehr gesehen hat. Sie war es auch, die ihn Mitte der 1970er-Jahre ins Zürcher Oberland geführt hatte. Er war beruflich in Zürich und wurde angefragt, ob er nicht auch in einer Bauernbeiz in Ringwil bei Hinwil auftreten wolle. Das Gastspiel auf dem Land wurde zum Grosserfolg. Ein Jahr später kehrte er ins Dorf zurück und lernte seinen heutigen Partner kennen. «Kitschig, aber wahr: Es war die Liebe, die mich ins Oberland geführt hat», sagt er: «Dort herrscht die gleiche Toleranz, wie ich sie in den 1980ern in Berlin angetroffen hatte. Die Menschen folgen dem klugen Satz aus der Revue «Cabaret»: leben und leben lassen. Das gefällt mir.»
Mary fand per Zufall zu Georg. Der Mann jobbte in jungen Studentenjahren in einer Bar, und begann die Gäste mit Sprüchen und Songs zu unterhalten. Den Menschen gefiel es, Georg sollte öfters witzeln und singen, auch auf Bühnen. Dann riet ihm jemand, als Frau aufzutreten, also stieg er in die «Bütt»: Marys Geburtsstunde. Danach führte ein Schritt zum andern. Er schloss sich mit Gordy zusammen, die Clubs, in denen er auftrat, wurden grösser, das Publikum wuchs, «ohne dass wir je dafür geklappert hätten». Parallel spielte Georg Preusse regelmässig Theater, gab im Stück «Cabaret» den Conférencier, war in Klassikern zu sehen, auch Friedrich Dürrenmatt engagierte ihn für eines seiner Stücke. «Mary aber war meine Lebensrolle, eine Kunst-Figur in der Tradition des Kabaretts, wie ich es in der Münchner Lach- und Schiessgesellschaft gelernt hatte.» Im Jahr 1986 kam es zum Bruch mit Gordy, die Solokarriere startete, der Erfolg aber blieb.
Man könnte Georg Preusse als Oma der modernen Dragqueens sehen, wie sie derzeit durch Fernsehsendungen und rote Teppiche stöckeln – grell, schrill und oft auch albern. Doch damit wird man dem Künstler nicht wirklich gerecht. Zwar schickte der grossgewachsene Deutsche auch Mary auf einen Kostüm- und Witzmarathon, sah aber in ihr eine ernsthafte Kunst-Figur. Er liess sie von Konflikten in Nahost singen, warnte vor Rechtsextremismus und Gewalt in der Ehe – und beobachtete, wenn betroffene Frauen im Publikum zu weinen begannen und ihre Männer verschämt die Köpfe neigten. «Mir war es wichtig, die Menschen, ernsthaft zu unterhalten, nicht bloss mit Klimbim», sagt Georg Preusse: «Mary war meine Marionette, durch die ich Dinge sagen konnte, die mir wichtig waren.» Er wollte die Menschen wachrütteln, würzte deshalb schon früh Unterhaltung mit sozialkritischen Themen, ohne die Leichtigkeit seiner Programme zu riskieren. «Ich bin mit der Faust, der flachen Hand und mahnenden Fingern aufgewachsen», sagt Georg Preusse: «Auf der Bühne suchte ich nach anderen Mitteln, meine Botschaften zu vermitteln: mit Feinsinn, Liebe und Ehrlichkeit. Mir war es zwar ein Anliegen, an der Gesellschaft zu kratzen, bluten lassen aber wollte ich sie nicht.»
Vermisst er das Rampenlicht nicht? Georg Preusse lacht: «Sie meinen das ständige Ein- und Auspacken, dieser ständige Druck, mir jeden Abend das Beste abzuringen und mich selbst mit gebrochenem Fuss in Stöckelschuhe zu zwängen?» Der Mann wirft den Kopf in den Nacken. «Nein, dieses Leben vermisse ich nicht – kein bisschen.» Es gab einen unvergesslichen Moment, der ihm zeigte, dass sein Schritt in ein alltäglicheres Leben richtig war. Er besuchte sein Patenkind, das er Jahre nicht mehr gesehen hatte, weil ihm die Zeit dazu fehlte. Der Junge flog auf seinen Götti zu und umarmte ihn. «Diese Liebe, die ich damals erfuhr, ist süsser und wertvoller als jeglicher Beifall. Mary hat sowas nie erfahren, obwohl sie bewundert wurde.»
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