Kampf gegen die Armut im 19. Jahrhundert

Regelmässig erreichen uns Geschichten, Texte und Zuschriften unserer Leserinnen und Leser. Diese wollen wir Ihnen nicht vorenthalten. Heute: Ein Loblied auf den Gemeinnützigen Verein Wattenwil von Theres Rentsch-Senn.

Sehr geehrtes Redaktionsteam

Viele der heutigen Seniorinnen und Senioren wurden während dem 2. Weltkrieg oder kurz nachher geboren. Ich gehöre auch zu dieser Nachkriegsgeneration. Wir wuchsen während der Hochkunjunktur auf; uns standen die Tore offen. Es herrschte Zukunftsglauben. Die Gefährdungen früherer Generationen, wegen Krankheit, Tod des Ernährers, Arbeitslosigkeit, Invalidität etc. in die Armut abzurutschen, schien in der 2. Hälfte des 20. Jhs. überwunden. Gut ausgebildete Sozialwerke, insbesondere die 1948 eingeführte staatliche AHV, die IV, die obligatorische Kranken-und Unfallversicherung, die berufliche Vorsorge sowie die Arbeitslosenversicherung bildeten ein tragfähiges soziales Netz.

Diese soziale Sicherheit gerät in unserer Zeit aus verschiedenen Gründen ins Wanken. Was heisst das für nachkommende Generationen? Wie war es früher?

Ich habe in meinem Buch «Zwischen unten und oben» den Alltag vergangener Generationen (16.-20. Jh.) untersucht, mir aber auch Gedanken gemacht über das Leben kommender Generationen. Der beiliegende Beitrag «Kampf gegen die Armut im 19. Jh.» zeigt, wie Vorfahren im 19. Jh. versucht haben, die sozialen Verhältnisse in ihrem Dorf zu verbessern. Ich bin von ihrem Engagement beeindruckt.

Mit freundlichen Grüssen,
Theres Rentsch-Senn


Armut in Wattenwil BE im 19. Jahrhundert

Viele Menschen in Wattenwil waren im 19. Jahrhundert arm. Neben persönlichen Schicksalsschlägen, wie z.B. dem frühen Tod des Ernährers, waren die vielen Kinder ein Armutsrisiko. Ähnlich wie in Rüschegg zogen auswärtige Hausierer und Bettler herum. Diese Konkurrenz vergrösserte noch den Druck auf die einheimischen Armen. Es gab aber noch weitere Gründe für die Armut: Das Land wurde übernutzt und warf deshalb einen geringen Ertrag ab. Vor der Gürbe-Verbauung (ab 1854) beeinträchtigten Hochwasser sowie Sumpfgebiete die Besiedlung und die landwirtschaftliche Nutzung. Es fehlten  Nebenerwerbsmöglichkeiten. Auch Natur- und  Klimakatastrophen, wie z.B. der Ausbruch des Vulkans Tambora in Indonesien 1816, verschlimmerte das Elend. Grosse Teile der Ernte fielen 1817 aus und die noch nicht korrigierte Gürbe überschwemmte das Talgebiet; eine Hungersnot war die Folge. In den 1850er-Jahren gab es eine weitere Hungersnot und eine Auswanderungswelle.

Zur Armut gehörte das Schnapselend. Alkoholsucht, Liederlichkeit und Faulheit waren gemäss der Dorfchronik in der Bevölkerung von Wattenwil weit verbreitet. Ausgerechnet der «Burgernutzen» an Allmend und Wald schien hinderlich zu sein für eine positive wirtschaftliche Entwicklung: «Burgergut galt als Quelle von Armut».

Auch Christian Jaussi (geb. 1824) und seine Familie gehörten zur sozialen Unterschicht. Er war ein Vorfahre meines Mannes. Als Schneidermeister ohne Grundbesitz gehörte er zu den armen Handwerkern im Dorf. Die Familie hatte 8 Kinder, wovon mindestens 4 im Kindesalter starben. Familie Jaussi lebte zur Miete. Sie durfte aber, wie alle Wattenwiler Burger, eine Kuh oder Ziegen auf der Allmend weiden lassen und einen kleinen Acker bewirtschaften. Daneben besassen Jaussis einen «Pflanzplätz». Die Ernährung der Familie war karg: es standen vor allem Kartoffeln, Kabis und Bohnen auf dem Speiseplan. 

Hilfe zur Selbsthilfe

Christian Jaussi schien Armut nicht einfach als Gottgegeben anzunehmen; er suchte Möglichkeiten zur Verbesserung der Lebensumstände. Als Mitglied Nr. 31 trat er dem Gemeinnützigen Verein Wattenwil bei. Auch Fritz Schenk, von Beruf Schmied und ein Vorfahre aus einer anderen Familie, gehörte als Mitglied Nr. 95. dem Verein an. Der Gemeinnützige Verein Wattenwil war 1866 von fortschrittlichen Männern gegründet worden. Ziel war es, das Gemeinwohl in der armen Gemeinde zu fördern. Das Tätigkeitsprogramm sah u.a. vor: Der verderblichen Branntweinpest entgegenzuwirken. Die Armut zu bekämpfen und den Wohlstand zu fördern.

Für die Armutsbekämpfung organisierte der Verein eine Geldsammlung, um vor allem im Winter die «Bettelkinder» morgens mit Milch und Brot zu versorgen. Daneben sollten bedürftige Eltern, die ihre Kinder aus Ehrgefühl nicht auf den Bettel schickten, zu Hause Unterstützung erhalten. Für die Eindämmung der auswärtigen Bettler und mittellosen Passanten wurde ein Hilfsverein gegründet. Wer 50 Rappen Jahresbeitrag bezahlte, wurde Mitglied und verpflichtete sich, die Bettler und Landstreicher nicht mehr vor der Tür zu unterstützen, sondern sie dem zum Voraus bestimmten Almosenspender zuzuweisen, der ihnen einen kleinen Geldbetrag aushändigte. Dadurch konnte das «Stromertum», das als Landplage galt, eingedämmt werden.

Eine weitere Massnahme, um die Armut zu bekämpfen, war die Aufteilung des Wattenwiler Burgerlandes. Der Verein gab den Impuls dazu: Die Burgergemeinde sollte das Allmendland den einzelnen Nutzungsberechtigten um die Grundsteuerschatzung verkaufen. Jeder der 460 berechtigten Burger sollte eine Jucharte Land erhalten. Man hoffte durch diese Aufteilung, die armen, «untätigen» Menschen zum Fortgehen zu bewegen. Dem Ausscheidungsvertrag wurde am 24. Dezember 1879 zugestimmt. Der Branntweinpest versuchte man entgegenzuwirken, indem man das Mosttrinken propagierte. Der Verein schaffte eine Mostpresse an und förderte den Anbau von Obstbäumen.

Um den Anschluss an die neue Zeit zu gewähren, setzte sich der Verein für die Errichtung eines Telegraphenbüros ein und übernahm einen Teil der Kosten. Eine neue Postverbindung mit der Station Uttigen führte zur Aufwertung der Postablage zu einem Postbüro. Eine Telefongesellschaft wurde gebildet, die den Anschluss an das Telefonnetz im Amt Seftigen und die Errichtung einer Telefonstation im Ort ermöglichte. Der Verein setzte sich für bessere Strassenverbindungen ein. Er unterstützte die Niederlassung eines Arztes und half bei der Gründung des Krankenhauses mit etc.

Telegraphenstation an der Dorfstrasse in Wattenwil. Die Telegraphie wurde in Wattenwil um 1870 eingeführt.
Telegraphenstation an der Dorfstrasse in Wattenwil. Die Telegraphie wurde in Wattenwil um 1870 eingeführt. (Quelle: rentsch-senn.ch)

Neben diesen Initiativen und praktischen Kursangeboten war der Gemeinnützige Verein bestrebt, seine Mitglieder durch Vorträge zu bilden. Auswärtige Fachleute  aber auch kompetente Mitglieder hielten in der 30-jährigen Vereinszeit 217 Referate zu  unterschiedlichen Themen. Auch das gesellige Leben unter den Mitgliedern wurde gepflegt.

Mich beeindruckt, wie die Menschen damals versuchten, gemeinsam durch Eigeninitiative ihr Leben zu verbessern.

Aus dem Alltagsleben von Menschen «zwischen unten und oben» vom 16. Jh. bis ins 20. Jh. – Mittelstand heute – morgen?
Buch von Theres Rentsch-Senn, 2021, www.rentsch-senn.ch (dort als PDF verfügbar)

Quellen:

  • Kirchenbücher von Wattenwil
  • Bähler Toni, Ortsmuseum Wattenwil, mdl. Infos.
  • Glur Werner «Thätigkeitsbericht des Gemeinnützigen Vereins Wattenwyl 1866-1896»
  • «Bruchstücke aus der Geschichte Wattenwils»,www.museum-wattenwil.ch./miw_chronik66
  • von Grafenried «Oeconomische Beschreibung der Herrschaft Burgistein» in «Burgistein» Ausschnitte aus dessen Geschichte

Beitrag vom 15.02.2024

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