Pensioniert oder freischaffend? 11. März 2024
Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von unserer vielfältigen Gesellschaft mit ihren vielen Vorurteilen.
Einfach ist sie nicht, meine zweite Lerneinheit an der Uni Bern. Drei Tage lang geht es um Gleichheit und Vielfalt, um interkulturelle und interreligiöse Perspektiven, um den Umgang mit Fremden und Fremdem, um unterschiedliche Werte und Normen und um Toleranz, die schnell in Konflikt stehen kann mit den universellen Menschenrechten. Dazu gibt es Zahlen und Statistiken und wissenschaftliche Texte zu lesen, denen nicht nur mein altes Gehirn nicht mehr gewachsen ist. Einen philosophischen Text zu lesen sei wie eine Bergwanderung, macht uns der Dozent Mut: Für die Mühen des Aufstiegs würden wir mit der Erweiterung des Horizonts belohnt.
Obwohl mir Flachetappen lieber sind, kämpfe ich mich durch einen Aufsatz «Zur Gegenstrebigkeit der Diversität». Wikipedia hilft mir: «Diversität bezeichnet ein Konzept der Soziologie und Sozialpsychologie zur Unterscheidung und Anerkennung von Gruppen- und individuellen Merkmalen.» Ich lerne das Buch «Darwin schlägt Kant» des forensischen Psychiaters Frank Urbaniok kennen. Der Autor ist überzeugt, dass der Mensch nicht das von Vernunft gesteuerte Wesen ist, als das er sich selber gerne sieht. Und so lautet auch der Untertitel: «Über die Schwächen der menschlichen Vernunft und ihre fatalen Folgen.»
Auch Zahlen und Statistiken werden in den Vorlesungen lebendig – über die säkularisierte Schweiz zum Beispiel. Betrachtet man nur die Zahl der Kirchenaustritte und den allgemeinen Rückgang bei den Gottesdienstbesuchen, ergibt sich das Bild einer Gesellschaft fern von religiösen Traditionen und Werten. Ganz anders zeigt sich die Umfrage, wenn Religiosität als individuell und subjektiv definiert wird, die auf die Institution Kirche oder auf Transzendenz ausgerichtet sein kann: Dann hat unser Land nichts von seinen religiösen Werten eingebüsst.
Diese Vielfalt erstreckt sich weit über Kirche und Religion auf die gesamte Gesellschaft hinaus. Doch der Umgang mit ihr ist mit Stolpersteinen gepflastert. Das zeigt uns schon der Dozent am Nachmittag: Er ist jung, hat einen dunklen Teint, schwarze Haare, einen kurzen schwarzen Bart und trägt einen arabischen Namen. Er habe sich überlegt, ob er auch noch gleich eine Trainerhose anziehen und einen Zahnpasta-Fleck auf seinem T-Shirt hinterlassen solle, um das Bild des typischen Ausländers zu vervollständigen. Stimmt: Jeder und jede von uns hat bei seinem Anblick wohl kurz gestutzt. Sein Aussehen lässt nicht auf einen Uni-Dozenten mit zwei eingereichten Doktorarbeiten schliessen. Wie es wäre, fragt er, wenn wir ihm bei Dunkelheit begegnen und er uns in einer fremden Sprache anreden würde?
In den drei Tagen geht es um Stereotypien, Vorurteile, Diskriminierungen und darum, dass wir alle nicht davor geschützt sind – auch nicht in der Arbeit als Seelsorgende, Pflegende oder Mediatorinnen. Auch ich nicht: Als wir das Blatt mit unseren Namen und den Berufen kontrollieren sollen, das den Dozenten jeweils vor der Vorlesung ausgehändigt wird, steht bei mir zusätzlich «pensioniert». Was? Sicher will ich nicht das Bild eines pensionierten Grosis abgeben! Schwungvoll streiche ich das «pensioniert» durch und ersetze es mit «freischaffend». Das tönt doch viel besser. Aber warum eigentlich?
- Wie wichtig ist für Sie, dass wir ohne Vorurteile aufeinanderzugehen? Wie stehen Sie zur Bezeichnung «pensioniert»? Wir würden uns freuen, wenn Sie uns Ihre Meinung mitteilen oder die Kolumne mit anderen teilen würden. Herzlichen Dank im Voraus.
- Hier lesen Sie weitere «Uschs Notizen»
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