Kintsugi 25. März 2024
Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: vom Rückblick auf das wechselvolle Leben.
Wer hin und wieder oder sogar oft auf sein Leben zurückblicke? fragt uns die Dozentin an diesem Uni-Vormittag. Meine Hand schnellt sofort in die Höhe. Je älter ich werde, umso häufiger blicke ich zurück. Vor allem in der Nacht, wenn ich nicht schlafen kann: Dann versuche ich mich an einzelne Situationen zu erinnern oder hänge bestimmten Szenen nach. Ich bin fasziniert von den Wendungen, die mein Leben genommen hat, obwohl es andere hätte nehmen können. Ich rühre auch an die schmerzhaften Erinnerungen, die Teil meiner Biografie sind. Irgendwann habe ich gelernt, liebevoll mit ihnen umzugehen. Sie dürfen ihren Platz in meinem Leben behalten und sollen weder geleugnet noch überbewertet werden.
«Biografie-Arbeit, Life-Review» heisst die Vorlesung mit der Psychoanalytikerin und Philosophin Brigitte Boothe. Im Alter und in schwierigen Lebenssituationen scheint das Bedürfnis nach diesem Rückblick besonders gross zu sein. Man möchte das Leben überblicken, es deuten und in einen Sinnzusammenhang stellen. Beim Blick zurück können eigene Kraftquellen und Fähigkeiten entdeckt werden. Er helfe, Freudvolles und Belastendes zu integrieren und den roten Faden, der das Leben durchzieht, weiterzuspinnen. Die Dozentin führt aus, wie wichtig bei dieser Biografie-Arbeit das Erzählen ist: Dann könne auch Schweres erträglich werden. Sie verweist auf die wichtige Rolle, die meinen Studiengspänli – die meisten sind in der Pflege oder Seelsorge tätig – als Zuhörende dabei zukommt.
Am Tag zuvor hatten wir in der Psychologie-Vorlesung auf einem Blatt «Ankerpunkte» gesetzt – besonders einschneidende Ereignisse in der eigenen Biografie. Diesen Punkten entlang zogen wir unsere Lebenslinie mit ihren Hochs und Tiefs. Die Vorlesung galt den Tiefs. «Kritische Lebensereignisse» nannte der Psychologie-Professor die Schicksalsschläge, die das Leben eines Menschen in seinen Grundfesten erschüttern können. Die entsprechenden Studien machen Mut: Die allermeisten Menschen bewältigen auch schwierigste Situationen gut – der Tod des Partners oder der Partnerin, eine Scheidung, ein Unfall oder eine Krankheit – und können sogar daran wachsen.
Ich lerne den Begriff Kintsugi kennen. Kintsugi ist eine traditionelle japanische Methode, um Keramik zu reparieren: Die Scherben werden mit einem von Gold- und Silberpigmenten durchsetzten Kitt wieder zusammengefügt. Im Internet schaue ich mir entsprechende Bilder an und denke, um wie viel schöner doch die reparierten, golddurchwirkten Schalen im Gegensatz zu den makellosen Gefässen sind. Vielleicht ist es auch im Leben so: Es sind die schmerzlich wieder zusammengefügten Trümmer, die ihm seinen besonderen Glanz verleihen.
- Kennen Sie das Bedürfnis nach dem Rückblick aufs Leben? Glauben Sie, dass wir an schwierigen Situationen wachsen können? Wir würden uns freuen, wenn Sie uns Ihre Meinung kundtun oder die Kolumne teilen würden. Herzlichen Dank im Voraus.
- Hier lesen Sie weitere «Uschs Notizen»
Sie besitzen noch kein Abonnement der Zeitlupe?
Abonnieren Sie die Zeitlupe und lesen Sie alle unsere Artikel auch online.
Ich möchte die Zeitlupe abonnieren