Die langfristige Pflege eines betreuungsbedürftigen Familienmitglieds ist anspruchsvoll. Angehörige stossen dabei meist an ihre Grenzen. Sie werden krank oder übergriffig. Psychische Misshandlung ist die häufigste Form von Gewalt.
Text: Usch Vollenwyder; Fotos: Marie Docher/ plainpicture
Rosmarie M.* hatte Rosenkohl gekocht. Mit Absicht. Ihre Schwiegermutter hasste das Gemüse. Dazu gab es Kalbsbratwurst, obwohl ihr eine saftige Schweinsbratwurst besser geschmeckt hätte. Ihre Schwiegermutter sass oben am Tisch, den Oberkörper tief über den Teller gebeugt. Ein Speichelfaden hing vom Mundwinkel. Die Gabel zitterte in ihrer Hand, als sie ein Röschen aufzuspiessen versuchte. Angeekelt wandte Rosmarie M. sich ab. Sie hatte so genug von ihrem Alltag mit der parkinsonkranken Schwiegermutter. Und von den kleinen Handreichungen, die zu einer anspruchsvollen Betreuungsaufgabe angewachsen waren.
Psychische Gewalt ist nur eine von vielen möglichen Gewaltformen gegenüber alten Menschen. Gemäss dem 2020 erschienenen Bericht des Bundesrats «Gewalt im Alter verhindern» sind in der Schweiz zwischen 300’000 und 500’000 Menschen über sechzig – rund jede fünfte Person – von irgendeiner Form von Gewalt betroffen: von physischem oder finanziellem Machtmissbrauch, von sexualisierter Gewalt oder Vernachlässigung, von Rechtsverletzungen oder Beleidigungen. Nur wenige dieser Fälle werden überhaupt gemeldet. Angst und Scham führen dazu, dass Gewalt im Alter bis heute ein Tabu is
Mit fast vierzig Prozent aller gemeldeten Fälle ist psychische Gewalt die häufigste Form von Misshandlung. Das zeigt die Statistik der Unabhängigen Beschwerdestelle für das Alter UBA, die sich gegen häusliche Gewalt, Misshandlung und für ein gewaltfreies Leben im Alter einsetzt. Zu psychischer Gewalt gehören Demütigungen, Drohungen, Bevormundung, Freiheits- oder Liebesentzug, Einschüchterungen, herabwürdigende Kritik, Nötigung oder auch einfach Schweigen. Selbst Überfürsorge kann eine psychische Misshandlung bedeuten: Wenn über alte Menschen verfügt wird und sie wie Kinder behandelt werden. In den wenigsten Fällen stehen böse Absicht oder Unwissenheit am Anfang einer von Gewalt geprägten Beziehung. Auch nicht bei Rosmarie M. Sie hatte es nur gut gemeint:
«Es schien so schön und vernünftig: Unsere junge Familie würde in das grosse Haus meiner Schwiegermutter ziehen. Die Kinder könnten auf dem Land aufwachsen, und sogar dem langersehnten Hund stand nichts im Weg. Auch mein Mann konnte sich das Zusammenleben mit seiner Mutter unter dem gleichen Dach vorstellen. Für meine Schwiegermutter, die zunehmend Unterstützung brauchte, schien es gar die ideale Lösung zu sein: Sie erhielt die nötige Unterstützung und musste nicht mehr allein sein. Auch ich selber war damals optimistisch und voller Energie: Ich würde die beiden Töchter, meine Teilzeitstelle, die Schwiegermutter und Haus und Garten problemlos unter einen Hut bringen.
Doch die Betreuung wurde immer anspruchsvoller. Irgendwann realisierte ich, dass ich die Rufe meiner Schwiegermutter zunehmend «überhörte». Wenn sie vom WC nicht mehr aufstehen konnte, liess ich sie oft lange warten. Sogar wenn sie stürzte – was wegen ihrer Krankheit häufiger vorkam – eilte ich ihr nicht sofort zu Hilfe. Ich strich ihre Lieblingsspeisen vom Menüplan und unterschlug Einladungen, zu denen ich sie hätte begleiten müssen. Ihre Blusen hängte ich ungebügelt in den Schrank. Ich «vergass» ihren Nachmittagstee. Unsere Beziehung wurde immer schwieriger. Das Schlimmste aber war: Ich hätte nie gedacht, dass ich von einer hilfsbereiten jungen Frau zu einer abweisenden, bösen Schwiegertochter werden könnte.»
«Die meisten Betroffenen schlittern in eine Betreuungs- und Pflegesituation hinein», sagt Ruth Mettler Ernst, Geschäftsleiterin der Unabhängigen Beschwerdestelle für das Alter UBA und des Nationalen Kompetenzzentrums Alter ohne Gewalt (siehe Interview): «Eine fortschreitende Krankheit, zunehmende Hilfsbedürftigkeit oder eine beginnende Demenz erfordern immer mehr Unterstützung – und plötzlich finden sich Ehepartner, Töchter oder Schwiegertöchter und auch Söhne in einer Situation wieder, die sie nie gewollt haben und die sie rundum überfordert.»
Überforderung ist laut Statistik der häufigste Grund, warum es in der häuslichen Pflege und Betreuung zu übergriffigem Verhalten kommt. Daneben gibt es weitere Risikofaktoren: das Zusammenleben im gleichen Haushalt, finanzielle und emotionale Abhängigkeiten, ungelöste Konflikte in der Partnerschaft oder familiäre Verstrickungen. Ein gelassener Umgang miteinander und eine friedliche Atmosphäre werden um ein Vielfaches erschwert, wenn sich die pflegebedürftige Person verweigert. Das musste auch Rosmarie M. erfahren. Sie hatte erwartet, dass sich ihre Schwiegermutter dankbar aufs Feierabendbänklein zurückziehen und freundlich dem familiären Treiben zuschauen würde. Doch nichts davon traf ein. Ihre Schwiegermutter, seit vielen Jahren verwitwet, war es gewohnt, selbst zu bestimmen.
«Mit strenger Hand hatte meine Schwiegermutter ihr Leben lang über die Familie regiert. In mir sah sie eine gefügige Haushälterin und Pflegerin. Sie kommandierte die Kinder herum, mäkelte über das Essen und benutzte das gemeinsame Badezimmer in der Regel dann, wenn die Kinder zur Schule und wir zur Arbeit mussten. Pünktlich um vier Uhr erwartete sie ihren Nachmittagstee. Schwierig wurde es, als die ältere Tochter in die Pubertät kam. Gar nichts mehr war gut an ihr. Ich stand ständig zwischen den Fronten. Was ich auch sagte, prallte an meiner Schwiegermutter ab. Mit Mühe und Not gelang es uns, zumindest für die Körperpflege die Spitex beizuziehen. In der Nacht stand mein Mann für seine Mutter auf. Ich hätte meine Schwiegermutter nicht mehr berühren mögen – gleichzeitig schämte ich mich für mein Verhalten.»
Albert Wettstein, ehemaliger Zürcher Stadtarzt und Vorsitzender der UBA-Fachkommission Zürich, rät dringend davon ab, in der Partnerschaft oder in der Familie als einzige Bezugsperson eine langfristige Betreuung zu übernehmen. Seine jahrzehntelange Erfahrung hat ihm gezeigt: «Lastet die Pflege über längere Zeit auf den Schultern einer einzelnen Person, wird diese entweder aggressiv oder krank.» Optimal betreuen könne nur, wer sich gezielt mit dieser Aufgabe auseinandersetze und sie im Voraus plane. Dazu gehört das offene Gespräch zwischen den Betreuenden und ihren hilfsbedürftigen Familienmitgliedern, nach Möglichkeit unter Einbezug der ganzen Familie und einer beratenden Fachperson. Sollen Pflege und Betreuung nachhaltig sein, müssen sie gut organisiert, auf mehrere Schultern verteilt und finanziell geregelt werden.
Ich konnte nicht verstehen, wie ich zur kleinlichen, bösartigen Person wurde.
Gewaltpräventiv wirken in einer häuslichen Betreuungssituation deshalb vor allem Entlastungsangebote: Neben der Spitex können das der stundenweise Einsatz von Freiwilligen aus dem Freundes- oder Familienkreis und der Nachbarschaft sein, der regelmässige Aufenthalt in einer Tages- oder Nachtklinik, aber auch Ferienangebote wie Alzheimerferien oder ein Ferienbett in einer Institution. Ebenso wichtig: Die Betreuenden müssen zu sich selbst Sorge tragen, auf ihre Grenzen achten und sie akzeptieren. Der Austausch in einer entsprechenden Selbsthilfegruppe kann dabei hilfreich sein. Betreuende Angehörige sollten auch jederzeit wissen, welche Hilfsangebote und Fachleute oder Beratungsstellen ihnen zur Verfügung stehen.
All diese Angebote gab es noch nicht, als Rosmarie M. mit ihrer Schwiegermutter in eine Gewaltspirale schlitterte. Zwar versuchten Verwandte und die Spitex zu vermitteln, doch die Fronten verhärteten sich immer weiter. Schliesslich entschied das Schicksal. Mitten in einer Probe des Kirchenchors fing Rosmarie M. an zu weinen. Sie weinte und weinte und konnte nicht mehr aufhören. Dann ging alles sehr schnell. Während sich Rosmarie M. von ihrem Zusammenbruch erholte, besuchte ihr Mann mit seiner Mutter ein Pflegeheim ganz in der Nähe. Sie, die sich bis anhin mit Händen und Füssen gegen einen Heimeintritt gewehrt hatte, war plötzlich einverstanden. Ihr gefielen vor allem die Pflegenden – diese seien so viel netter als ihre Schwiegertochter, meinte sie. Der Zufall wollte es, dass ein schönes, grosses Eckzimmer frei war. Rosmarie M.s Schwiegermutter konnte sofort einziehen.
«Für mich begann ein neues Leben. Aus Pflichtgefühl besuchte ich meine Schwiegermutter regelmässig im Pflegeheim. Das machte mir nichts aus. Die Verletzungen, die sie mir zugefügt hatte, schmerzten zwar nach wie vor. Und immer noch konnte ich nicht verstehen, wie ich zu einer kleinlichen, rachsüchtigen, bösartigen Person hatte werden können. Ich fühlte mich gleichzeitig als Täterin und Opfer. Je weiter die Krankheit meiner Schwiegermutter fortschritt, umso mehr aber schien sie sich über meine Besuche zu freuen. Als sie im Sterben lag, verbrachte ich viele Stunden an ihrem Bett. Ich brachte Ordnung in meine Gedanken und Gefühle. Doch es dauerte Jahre, bis ich mich mit meiner Schwiegermutter, mit mir und mit diesem Teil meiner Lebensgeschichte versöhnt hatte.»
*Name der Redaktion bekannt
«Es ist nie zu spät, Hilfe zu holen»
Hilfe für Menschen, die Gewalt erfahren – und für solche, die Gewalt ausüben: Für Ruth Mettler Ernst, Geschäftsleiterin der Unabhängigen Beschwerdestelle für das Alter UBA, ist Gewalt auch ein gesellschaftliches Problem. Sie plädiert für Sensibilisierung und Information.
Das 2022 gegründete Nationale Kompetenzzentrum Alter ohne Gewalt ist ein Zusammenschluss der drei schweizerischen Organisationen, die in der Prävention von Gewalt gegen ältere Menschen engagiert sind: Die Unabhängige Beschwerdestelle für das Alter UBA in der Deutschschweiz, alter ego in der Westschweiz und Pro Senectute Ticino e Moesano in der Südschweiz. Das Kompetenzzentrum betreibt neben Information, Sensibilisierung und Wissenstransfer die nationale Hotline 0848 00 13 13.
Anrufende werden je nach Sprachregion zu einer der drei Organisationen weitergeleitet. Bei der UBA werden die gemeldeten Fälle an die in den jeweiligen Fachkommissionen freiwillig tätigen, mehrheitlich pensionierten Fachkräfte – Ärzte, Juristinnen, Heimleitende, Sozialarbeitende, Theologen oder Mediatorinnen – zur Weiterbearbeitung übergeben. 2023 wurden der Unabhängigen Beschwerdestelle für das Alter UBA insgesamt 616 Konflikt- und Gewaltfälle gemeldet. Die Beratung ist kostenlos und vertraulich.
Weitere Informationen:
Nationale Hotline: 0848 00 13 13
Adressen: Unabhängige Beschwerdestelle für das Alter UBA in Zürich, Telefon 058 450 60 60, Mail info@uba.ch, uba.ch
Anlaufstellen: Hausärztinnen und Hausärzte, Spitex-Mitarbeitende, Sozialberatungsstellen, Pro Senectute, Gemeinden und Seelsorger. In einigen Kantonen und Städten gibt es spezialisierte Ombudsstellen. Ebenfalls kann die Kesb angegangen werden. In akuten Gewaltsituationen ist die Polizei zu kontaktieren.
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