67. Waadtländer bon sens Aus «Staatsmann im Sturm»
Am nächsten Tag, 12. September, fehlt Pilet an der Sitzung der Vollmachtenkommission, denn er muss in Lausanne am Comptoir eine Grundsatzrede halten. Donnerstag ist der offizielle Tag der grossen Lausanner Herbstschau. Der Andrang ist gewaltig. Die SBB haben 7000 verbilligte Sonderbilletts Lausanne retour verkauft. Am Vormittag besuchen hohe Gäste, darunter der Bundespräsident und der General, die verschiedenen Hallen. Beide werden warm applaudiert. Ein Journalist beobachtet, wie Pilet am Stand des traditionsreichen Familienunternehmen Maulner ein Gläschen degustiert. Die Firma produziert im Val-de-Travers einen begehrten Champagner, wie alle Schaumweine damals noch genannt werden durften.
Der Bundespräsident wird ans Telefon gerufen. Etter am Apparat. Er kommt gerade aus der Sitzung der Vollmachtenkommission und tönt aufgeregt. Am Morgen hat der deutsche Rundfunk ein Communiqué der Nationalen Bewegung der Schweiz verlesen, das den Empfang dreier ihrer Vertreter durch den Bundespräsidenten als «Befriedung der politischen Verhältnisse der Schweiz» bezeichnet. Etter berichtet Pilet über die helle Empörung, die das Communiqué der NBS in der Vollmachtenkommission ausgelöst hat. Pilet ist nicht sonderlich beunruhigt. Er sagt Etter, er habe es Schaffner und Konsorten nicht verwehren können, eine Mitteilung herauszugeben. Vom Wortlaut habe er keine Kenntnis gehabt.
Am Mittagsbankett des Comptoirs ist der Bundespräsident Hauptredner. Er hat am Sonntag sorgfältig an seinem Text gefeilt. Neben seinen waadtländischen und eidgenössischen compatriotes wird auch das «Ausland» zuhören. In Pilets Nachlass ist ein Lausanner Zeitungsbericht über einen von ihm am 28. Juni 1933 gehaltenen Comptoir-Vortrag mit einer mittlerweile rostigen Büroklammer an eine Kopie seines Manuskripts angeheftet. Der Bundespräsident hat seine sieben Jahre alten Worte nachgelesen, bevor er seine Rede schrieb. Damals hatten in Hitlers Deutschland schon Massenverhaftungen von Kommunisten und Sozialisten stattgefunden. Juden waren aus dem Geschäfts- und Kulturleben verbannt worden. Pilet, obwohl als Bundesrat zu neutraler Vorsicht verpflichtet, liess es sich an jenem 28. Juni 1933 nicht nehmen, eindringlich zu warnen:
Hüten wir uns jedenfalls vor Demagogie und einer Leidenschaft, die zur Gewalt führt, der Gewalt, die ihrerseits das Chaos erzeugt. In der Schweiz wollen wir keine Diktatur! Der vor zehn Jahren geborene Faschismus, der Italien umgewandelt hat, hat uns gleichgültig gelassen. Hingegen hat es genügt, dass jenseits des Rheins der Hitlerismus entsteht, dass man bei uns plötzlich aufwachte. Ist denn der Hitlerismus wirklich so weit weg vom Bolschewismus? Vergleicht und denkt darüber nach! Von Anfang an hat der Hitlerismus den Rassismus beinhaltet – was der Faschismus nie gesucht hat. Liegt darin nicht der Wunsch nach Herrschaft?
Von dieser frühen Auffassung über Bolschewismus und Hitlerismus ist Pilet nicht abgekommen. Aber als Bundespräsident und Aussenminister (und angesichts der Dominanz Deutschlands auf dem Kontinent) muss er vorsichtig sein. Der Bundespräsident beginnt mit der üblichen captatio benevolentiae an die Organisatoren des Comptoirs, die «mit der prächtigen Entwicklung ihrer Institution der Arglist der Zeit eine erstklassige Antwort» gegeben hätten. Kokettierend sagt er:
Vielleicht wird ihre Tätigkeit dadurch erleichtert, weil sie sich in einer gesegneten Erde entwickelt, meiner schönen kleinen waadtländischen Heimat? Aber ich will nicht das Lob des Kantons Vaud anstimmen! Man weiss es übrigens: «Il n’y a point comme nous.»
«Es gibt keine wie wir» ist ein geläufiger selbstironischer Spruch, den jeder Waadtländer kennt. Pilet fährt fort:
Meine Mitbürger, ihr wisst nicht, welcher Gefallen euch damit getan wird, dass ihr eine Regierung wie die eurige besitzt. Sie ist gleichzeitig väterlich und charakterfest, in engem Kontakt mit der Bevölkerung; nichts desto weniger sitzt sie im «Château» [Anführungszeichen im Text], was mehr ist als ein Symbol. Sie hat den Sinn, den goût der Autorität. Sie findet sich nicht mit Machtübergriffen ab. Richtigerweise setzt sie die Verantwortlichkeit neben die Zuständigkeit. Wenn sie auch traditionalistisch bleibt – wer würde ihr dies nicht zubilligen? – macht sie doch Jagd auf die Routine. Wenn es sein muss, erweist sie sich als kühne Erneuerin, die mit eingefleischten Gewohnheiten bricht. Weil sie waadtländisch ist, hat sie einen nicht lauten, aber hartnäckigen Willen. Sie kann durchhalten und ans Ziel kommen.
Das ist Pilets politisches Credo.
Wenn Reden Silber sei, dann Schweigen Gold, sagt Pilet. Nie habe er dies besser begriffen als jetzt. Das Wesentliche jedoch müsse gesagt sein. Seine Doppelfunktion als Bundespräsident und Aussenminister erfordere es allerdings, dass er seine Worte genau abwäge. Dieses «Wesentliche» lautet in der offiziellen – vor allem für Berlin bestimmten – deutschen Übersetzung:
Die kapitale Mission des Bundesrates in den gegenwärtigen Zeitläufen besteht darin, das Land in der Unabhängigkeit und Freiheit zu erhalten. Sein Wille, hiefür seine ganze Energie und seine ganze Umsicht einzusetzen, braucht keinerlei besondere Erwähnung. Dinge, die sich aufdrängen und über jeder Diskussion stehen, verlieren, wenn man sie wiederholt.
Das Problem unseres nationalen Bestehens ist heute ebenso gut, wenn nicht mehr, wirtschaftlicher und politischer Art als militärisch bedingt. Und der Grundsatz unserer Politik, der durch die Erfahrung mehrerer Jahrhunderte erhärtet ist, bleibt die Neutralität. Eine aufrichtige, loyale, uneingeschränkte Neutralität, um den seit einigen Jahren beliebten Ausdruck zu gebrauchen; eine besonnene Neutralität, das will besagen eine Neutralität frei von aller Leidenschaftlichkeit, von jeder ideologischen Beeinflussung, was sich von selbst versteht; eine Neutralität de facto wie de jure; eine unerschütterliche Neutralität, deren Achtung wir mit allen unseren Mitteln zu behaupten entschlossen sind, welches auch die Unannehmlichkeiten und die Opfer sein mögen, die sich daraus ergeben könnten, wenn man sie unter Umständen zu vergessen oder als unwesentlich zu betrachten schiene. Kein Zweifel irgendwelcher Art darf darüber bestehen.
Französisch tönt das besser, aber – im Gegensatz zur übereilten Übersetzung der Rede vom 25. Juni – ist die deutsche Fassung immerhin verständlich. «Unerschütterliche Neutralität» bleibt der Leitstern der schweizerischen Aussenpolitik. Die strikte Neutralität, doziert Pilet weiter, sei nicht alles:
Sie ist eine Haltung gegen aussen. Nach innen kommt eine andere, nicht weniger wesentliche Haltung dazu, die Ordnung. Ordnung muss herrschen, eine umfassende Ordnung, die gleich unserer Neutralität uneingeschränkt sein soll. Jede Bewegung des Umsturzes (tout mouvement subversif) würde eine schwere Gefährdung bedeuten.
Schon der neunjährige Schüler Marcel Pilet bewunderte seinen Lehrer, der auf Ordnung bestand. Als Belle-Lettres-Sektionspräsident verlangte er, dass die Sitzungen geordnet verliefen, bei aller Freude an studentischem Schabernack. Tanzte er nicht einmal auf der Bühne mit einem anderen Studenten einen begeistert applaudierten, wilden French Cancan? Als Offizier verlangte er Disziplin, wenn ihm auch als Student in Leipzig der militaristische Ordnungsfimmel der «Teutonen» auf die Nerven gegangen war.
Zum Autor
Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997);Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».
Als dritte «Widerstandskraft» des Landes – es ist ein rhetorische Marotte Pilets alles in Dreizahl aufzulisten – nennt der Bundespräsident den Realismus:
Ohne die Zukunft festlegen zu wollen – was nur der Herrgott vermag – ist es doch gewiss, dass Europa bald nicht mehr sein wird, was es gestern war, was es heute schon fast zu sein aufgehört hat. So mächtige Umwälzungen, wie sie sich gegenwärtig vollziehen, lassen immer ihre Spuren zurück, selbst in Ländern, die davon anscheinend und teilweise verschont blieben. Der Kontinent ist solidarisch, und zwar in einem dank der Mittel der modernen Technik zunehmenden Masse. Es wäre töricht, dies zu bestreiten; es zu verkennen, aber wäre gefährlich.
Pilet warnt jedoch vor «unbedachtem Vorgreifen», von «theoretischen Gedankengebilden » und plädiert stattdessen für «feste Entschlossenheit zum Erfolg». Von einer grundlegenden Erneuerung der Institutionen, wie viele sie im Moment fordern, hält Pilet nichts:
Les Institutions? … Die Einrichtungen, sage ich, sind sekundärer Natur. Sie gelten soviel wie der Gebrauch, der von ihnen gemacht wird. Die unsrigen sind nicht so schlecht, wie manche behaupten. Zwar bin ich der Letzte, der leugnen würde, dass sie, wie ich es nennen möchte, gewissen demagogischen Degenerationserscheinungen verfallen sind, die entschlossen bekämpft werden müssen. Die schmerzliche Erfahrung anderer [Pilet denkt an Frankreich] soll uns dienlich sein. Aber mit Weisheit angewendet, ohne Vermengung der Gewalten, ohne Zersplitterung der Kompetenzen und der Verantwortlichkeiten – jeder an seinem Platz zur Erfüllung der ihm zugewiesenen Aufgabe – ohne Vielheit der Instanzen, sind sie in ihren Grundlagen gesund.
Die waadtländischen und die eidgenössischen Institutionen, wie sie im 19. Jahrhundert geschaffen wurden, sind für Pilet grundsätzlich gesund. Er räumt allerdings ein:
Richtig verstanden, werden sie [die Institutionen] sich mit den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten entwickeln müssen, um jeden Bruch mit der Wirklichkeit zu vermeiden. Stillstand bedeutet, wie Sie wissen, Tod.
Hier spricht der Waadtländer Radikale, der Bewunderer des grossen Louis Ruchonnet, der als Kantons- und Bundesrat im 19. Jahrhundert bahnbrechende juristische und soziale Reformen durchsetzte.
Noch einmal fordert Pilet «nationale Disziplin», wobei er irΩnisch hinzufügt «in dem Masse, als der Mensch dazu fähig ist»:
Oft verwechselt man Disziplin mit Verknechtung. Die Armee beweist, dass dem nicht so ist, die Armee, an die ich freudig [hier finden sich im Text der Rede handschriftlich die Worte hinzugefügt, dans la personne de son chef supérieur, le Général Guisan!] meinen dankbaren und brüderlichen Gruss richte.
Dabei blickt Pilet zu dem in vorderster Reihe sitzenden General, der von Applaus überschüttet wird.
Im Predigerton, in den er gerne verfällt, endet der Bundespräsident mit der Aufforderung nach vorne zu schauen. Bedauern und Jammern bringe nichts. Mit Mut und Zuversicht soll das Land arbeiten, «ici que partout ailleurs, maintenant plus que jamais»:
Arbeiten wir, nicht für den blossen Profit, sondern das Allgemeinwohl. Arbeiten wir fröhlich für unsere moralische und körperliche Gesundheit, um auch der Vorsehung für ihren hohen Schutz zu danken. Arbeiten wir, so wie man betet. Es ist dies die schönste Handlung der Gnade. Möge Gott die nationale Arbeit segnen.
«Die Rede, wunderbar vorgetragen», schreibt tags darauf die Gazette, «wurde häufig vom Beifall des Publikums unterbrochen. Als der Redner von der Tribüne herabsteigt, wird ihm eine lange Ovation zuteil. Die in FHD-Uniform gekleidete 20-jährige Kantinenserviererin Yvette Murisier drückt ihm ein Blumengebinde in die Hand. Am nächsten Tag ist er zurück in Bern. Dort erwarten ihn statt Beifall und Blumen Schimpf und Schande.
- Hier gehts zum Nachwort.
- Jeweils sonntags wird der Roman «Staatsmann im Sturm» auf zeitlupe.ch fortgesetzt.
- Diese Kapitel sind bereits erschienen
«Staatsmann im Sturm»
Hanspeter Born, Staatsmann im Sturm. Pilet-Golaz und das Jahr 1940. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 540 Seiten, CHF 32.–. ISBN 978-3-907 146-72-, www.muensterverlag.ch
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Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld
Umschlagsbild: KEYSTONE-SDA / Photopress-Archiv