Kindersegen? 3. Juni 2024
Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: vom Kinderkriegen einst und heute.
Angesichts der vielen Schwangerschaftsratgeber und Mamablogs, der medialen Babybäuche und der dazugehörigen medizinischen Rundum-Begleitung frage ich mich, wie ich vor fünfzig Jahren überhaupt ein Kind bekommen konnte – ohne Folsäure und Keuchhustenimpfung, ohne Ultraschall und Blutproben, ohne Schwangerschaftsturnen und Geburtsvorbereitung. Das war in Afrika, ich war unbeschwert und unsterblich, war neun Monate lang «guter Hoffnung» und dann kam das Kind. Alles ging gut, das kleine Mädchen war gesund, das genügte mir. Am nächsten Tag wusch ich bereits die ersten Stoffwindeln unter dem kalten Wasserstrahl.
Ich rümpfe die Nase, als ich die Einladung zur nächsten Lerneinheit an der Uni Bern bekomme: «Spiritual Care bei Krisen vor und nach der Geburt». Das Thema interessiert mich wenig. Alles ist so weit weg. Zudem will ich nicht damit konfrontiert werden, was ich alles falsch gemacht habe, weil ich die damals üblichen «Erziehungsregeln» einhielt: Babys bekommen ihre Nahrung nach Stundenplan. Sie schlafen im eigenen Bett. Und keinesfalls soll man sich von ihrem Geschrei erweichen lassen! Diese Haltung tut mir manchmal immer noch ein bisschen weh. Ich hätte mir und den Kindern wohl einiges ersparen können, wenn ich nachgiebiger gewesen wäre.
Doch bereits die erste Vorlesung – sie wird von einer praktizierenden Hebamme gehalten – interessiert mich. Elternschaft sei heute ein «Leistungsauftrag», sagt sie. Planung, Sicherheit und Kontrolle haben das frühere «in guter Hoffnung sein» verdrängt. Untersuchungen und Tests ersetzen mütterliche Intuition und Vertrauen – eine Entwicklung, die von Jahr zu Jahr weiter vorangetrieben werde und sich nicht mehr aufhalten lasse. Im heutigen Machbarkeitswahn werde jungen Eltern allzu oft vorgegaukelt, dass nur mit genügender Vorsorge und Kontrolle der Schicksalshaftigkeit des Lebens in jedem Fall ein Schnippchen geschlagen werden kann. Beim Zuhören tut sich mir eine neue Welt mit neuen Fragen auf.
In der Vorlesung am nächsten Tag kann ich wenig mit den jahrtausendealten Mutterkultfiguren und Muttergöttinnen anfangen. Und noch weniger mit Bibelstellen, welche Mutterschaft verklären und Kinderlosigkeit als Leid betrachten. Auch Maria tut mir leid, die als Gottesmutter im Laufe der Geschichte zur Mutter aller Mütter hochstilisiert wurde. Ohnehin habe ich Mühe mit dem Glorienschein, mit dem auch Maler wie Picasso oder Dichter wie Tolstoi eine Mutterschaft ausstaffieren. Als die Dozentin sagt, dass die Geburtsphase ein Fenster zu einer spirituellen Dimension öffnet, raunt mir meine Tischnachbarin zu: «Ohne Kinder kommt man sich richtig ausgeschlossen vor.» Mir ist deswegen schon die ganze Zeit unwohl gewesen.
Die kinderlose Hebamme vom Vortag weiss, wohin mit ihren Gefühlen von Zärtlichkeit und Fürsorge: zu anderen Menschen, zum Beruf, zur Umwelt. «Unser Planet braucht so viel Mütterlichkeit und Väterlichkeit», sagt sie. Was für ein schöner Gedanke.
- Haben Sie sich bei Ihren Kindern früher auch strikte die damaligen Erziehungsregeln befolgt? Was halten Sie heute davon? Wir würden uns freuen, wenn Sie uns davon erzählen oder die Kolumne teilen würden. Herzlichen Dank im Voraus.
- Hier lesen Sie weitere «Uschs Notizen»
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