«Seid Menschen!»: Das Plädoyer von Margot Friedländer

Die Modezeitschrift «Vogue» überrascht mit einem besonderen Titelbild: Die deutsche Ausgabe ehrt die 102-jährige Holocaust-Überlebende, die unermüdlich für mehr Menschlichkeit kämpft – und gegen das Vergessen des Horrors der Nazi-Zeit.

Text: Marco Hirt

Auf den ersten Blick mutet das Cover der deutschen «Vogue» für manche etwas seltsam an: Auf der Juli/August-Ausgabe lächelt Margot Friedländer, bekanntlich eine der wenigen noch lebenden Zeitzeuginnen der Verfolgung und Ermordungen von Jüdinnen und Juden während der Nazi-Zeit. Eine Überlebende des Holocaust auf dem Titel eines Modemagazins – passt das? Eine Frage, die sich auch «Spiegel Online» gestellt hat. Und zum Schluss kommt, dass es im Fall der 102-Jährigen sogar doppelt passt.

Geplatzte Träume

Weshalb genau? Zum einen, weil Margot Friedländer eine starke Affinität zum Thema Mode hat. So hatte sie als junge Frau davon geträumt, Schneiderin und Designerin zu werden und sich deshalb 1936 an einer Berliner Kunstgewerbeschule eingeschrieben und dort Mode- und Reklamezeichnen gelernt. «Ich wollte selbst Kleider entwerfen, hatte grosse Pläne», sagt sie im Interview mit der «Vogue».

Andererseits nutzt Margot Friedländer die Gelegenheiten, um ihrer grossen Sorge Ausdruck zu verleihen und davor zu warnen, die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen – besonders in Hinblick auf die aktuelle politische Lage mit einem spürbaren Rechtsruck in vielen Ländern. Was sie während des Holocaust und der Ermordung von sechs Millionen Juden und Jüdinnen erlebt hat, soll nie wieder geschehen: schrittweise Ausgrenzung, Vertreibung vor aller Augen und systematische Vernichtung. «Schaut nicht auf das, was euch trennt. Schaut auf das, was euch verbindet. Seid Menschen, seid vernünftig», so ihr Plädoyer für das Miteinander.

Liebe statt Hass

«Sie lässt sich auf keine Seite ziehen», meint «Vogue»-Chefin Kerstin Weng zur Wahl Margot Friedländers für das aktuelle Cover. «Ihre einzige Maxime ist die Liebe zu Menschen. Der Respekt vor Leben und die Verantwortung des Menschseins sind die Kernbotschaften von ihr.» Sie, die als Holocaust-Überlebende allen Grund für Hass hätte, setze sich für die Liebe ein. «So ziert die 102-Jährige unsere Ausgabe, die wir genau diesem Thema widmen.»

Am 5. November 1921 wurde Margot Bendheim in Berlin als deutsche Jüdin geboren, überlebte als einzige ihrer Familie den Holocaust. Ihre Eltern und ihr Bruder kamen in den Vernichtungslagern ums Leben, Margot schaffte es, unterzutauchen, wurde aber verraten und 1944 verhaftet. Es folgte die Deportation ins KZ Theresienstadt, wo sie auf einen Bekannten traf, Adolf Friedländer, der ebenfalls seine ganze Familie verloren hatte. Sie überlebten, heirateten kurz nach der Befreiung 1945 und wanderten nach New York aus. Als ihr Mann 1997 verstarb, begann sie, ihre Erinnerungen aufzuschreiben und zu veröffentlichen, 2008 erschien schliesslich ihre Biografie «Versuche, dein Leben zu machen. Als Jüdin versteckt in Berlin». Nach einigen Deutschland-Besuchen wuchs zunehmend in ihr der Wunsch, in ihre Geburtsstadt zurückzukehren: «Ich war noch nicht fertig mit Berlin.» Seit 2010 lebt sie wieder dort, in einer Wohnung in einer Seniorenresidenz. Und Margot Friedländer beschloss, sich gegen das Vergessen des Nazi-Horrors zu engagieren und als Zeitzeugin speziell in Schulen ihre Geschichte zu erzählen und über Antisemitismus zu sprechen.

Dankbar, es geschafft zu haben

Was sie in die USA und zurück in all den Jahren begleitet hatte, sind eine Bernsteinkette und ein schmales Adressbuch. Beides befand sich in der Handtasche ihrer Mutter Auguste, die ihr eine Nachbarin gab – Auguste stellte sich freiwillig den Nazis, nachdem Margots jüngerer Bruder verhaftet wurde, um bei ihm zu sein. Und bekam mit der Handtasche deren letzte Worte an Margot ausgerichtet: Sie solle versuchen, ihr Leben zu machen – die Worte, die später zum Titel ihrer Biografie wurden. Wie denkt sie heute darüber? «Ich bin dankbar, dass ich es geschafft habe», sagt Margot Friedländer in der «Vogue». «Dafür, dass ich den Wunsch meiner Mutter erfüllen konnte.»

An den Tod denke sie nicht, sagt sie weiter. Und stelle sich keine Fragen, warum das eine so oder eben anders sei. «Lass das Leben von Tag zu Tag gehen.» Wenn der Moment komme, werde sie neben ihrer Oma Adele auf dem Jüdischen Friedhof Weissensee beigesetzt. Da, wo auch ihrer Mutter und ihrem Bruder ein Gedenkstein gewidmet ist.

«Ich bin! Margot Friedländer (AT)»: Margot Friedländer und Julia Anna Grob © ZDF/ Dirk Heuer

Gut zu wissen:

Filmtipp

«Ich bin! Margot Friedländer»: Das Film-Drama schildert die bewegende Lebensgeschichte im Wechsel zwischen dokumentarischen und gespielten Szenen, in der auch Margot Friedländer zu Wort kommt. «Die Kraft, dass sie selbst noch von ihren Erlebnissen erzählen kann, ist ein solches Geschenk, das man nicht missen möchte», sagte Produzent Nico Hofmann. Die Produktion lief erstmals Anfang November 2023 im TV, ist aber nach wie vor in der ZDF-Mediathek abrufbar.

Lesetipps

«Versuche, dein Leben zu machen»: Die 2008 erschienene Biographie von Margot Friedländer (Rowohl Taschenbuch)

«Ich tue es für Euch»: Was wir von einer hundertjährigen Holocaust-Überlebenden über Vergebung, Hoffnung und Toleranz lernen können (Verlag Gräfe und Unzer)

«Ihr müsst vorsichtig sein»: Margot Friedländer zum 100. Geburtstag – Ein Gespräch über Vergangenheit und die Lehren der Zukunft (Berlin Story Verlag)

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Der Überlebende

Fishel Rabinowicz (99) ist einer letzten Zeitzeugen des Holocaust. Am 11. April 1945 wurde er im Konzentrationslager Buchenwald befreit. In seinem künstlerischen Werk setzt er sich mit der Vergangenheit auseinander.

Beitrag vom 20.06.2024

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