Eine Reise zurück
Regelmässig erreichen uns Geschichten, Texte und Zuschriften unserer Leserinnen und Leser. Diese wollen wir Ihnen nicht vorenthalten. Heute eine Kurzgeschichte von Katharina Friederich über den Tod und die Begegnungen mit der Lebendigkeit.
Guten Tag
Ich wende mich mit einem Themenvorschlag, respektive einer Kurzgeschichte an Sie. Die Geschichte beinhaltet folgendes:
- die eigene Auseinandersetzung mit dem drohenden Lebensende
- meine Erfahrung mit Biographiearbeit im Alter
- die Kraft der Erinnerung
Es ist ein Gespräch mit dem Tod und die Begegnungen mit der Lebendigkeit.
Mit freundlichen Grüssen,
Katharina Friederich
Die Beine auf einem Stuhl hochgelagert versunken, in den bordeauxroten Sessel mit seinen abgewetzten Armlehnen, schnarcht leise eine zierliche Person. Auf der Brust liegt geöffnet ein Buch mit Fotos und schwungvollen Worten unter jedem Bild. Ein kleines Mädchen, höchstens drei, sitzt mit Kelle und Schwingbesen in einem Haufen aus weissem Pulver. Mit breitem Grinsen und offenen Augen, schaut es aus dem Schnappschuss empor. Auf dem faltenreichen Gesicht zieht sich der halbgeöffnete Mund in ein Lächeln. Die Augen noch immer geschlossen, tätschelt die linke Hand die Seite des Buches, bevor sie sich wieder entspannt.
Tante Emma, in ihren Achtzigern, liebt es, ihre Fotos anzuschauen. Dabei kann sie Raum und Zeit vergessen und es passiert, wie eben, dass sie dabei einnickt. In ihrem Geist geht sie zurück, in eine längst vergangene Zeit. Sie ist wieder das kleine, unbeschwerte Mädchen einer intakten Familie. Mit Flausen im Kopf und Tatendrang entdeckt sie zusammen mit ihren drei Geschwistern die Welt. Ob im Garten und am Bach mit Sand und Wasser spielend oder im Haus den Tätigkeiten ihrer Mutter nacheifernd, ihr fällt immer etwas ein. Hemmungslos und mit grosser Begeisterung mischt sie hier Zutaten zusammen, die sie aus dem Schrank erreichen kann. Sie möchte die Familie mit einem frischen Brot überraschen. Der Fussboden erweist sich als grosszügiger Platz für den Teig. Emma liebt dieses kleine Mädchen.
Aus dem bordeauxroten Sessel tönt es plötzlich heiser: «Weisst du», «das Leben war schon gutmütig mit mir.», ein langer Atemzug, als horche die alte Frau in die Stille. Die Lider verdecken die Augen, nur der Mund bewegt sich: «Ja, du warst schon früh ein ungebetener Gast in unserer Familie. Das war jedoch vor meiner Zeit.» Diesmal huscht ein wehmütiges Lächeln über das schrumpelige Gesicht. «Wer weiss, ob es mich überhaupt geben würde, ohne dich?». Lange Stille kehrt ein, es scheint, als wäre Emma wieder eingeschlafen. Der Gedanke an ein ungeborenes Geschwister löst erst jetzt, im Alter, eine eigenartige Traurigkeit in ihr aus.
Im nächsten Moment schlägt Emma die Augen auf. Sie nimmt ihre Füsse mit einem Ruck vom Hocker, dabei rutscht das Buch von der Brust und fällt zu Boden. Kopfschüttelnd steht sie langsam auf, streckt ihren Rücken und stemmt die Hände ins Kreuz. Es knirscht leise. Jetzt bin ich im knackigen Alter, denkt sie sich und grinst über ihren eigenen Witz. Die blauen Augen suchen sich den Weg zur aufgeschlagenen Seite des Fotobuchs. Ein buntes Bild zeigt vier Menschen, doch trotz ihren zusammengekniffenen Augen bleibt das Bild auf diese Distanz verschwommen.
Emma legt eine Hand auf die Lehne des Sessels und bückt sich langsam, bis sie mit der anderen das Buch ergreifen kann. «Das ging auch schon besser», murmelt sie vor sich hin und richtet sich wieder auf. Sie bleibt stehen, vertieft sich in das Bild, das ihren Mann und sie mit den zwei kleinen Söhnen auf einer Schaukel zeigt. Emmas Geist schwebt hin, zu den vielen Ausflügen im Bunde der Familie. Welch wunderbare Abenteuer sie gemeinsam erleben, wie unbeschwert und froh diese ersten Jahre als frischgebackene Eltern sind. Kreischend springen die Buben vor den Eltern davon, bis Emma den einen einfangen und im Kreis herumwirbeln kann, während der andere sich ins hohe Gras fallen lässt und laut lachend auf Papa wartet.
Leben und Tod als Geschwister
Emma hebt den Blick und richtet ihre blauen Augen zum Fenster, das soeben mit einem gelben Glanz aus Sonnenlicht beleuchtet wird. «Weisst du, da hattest du keinen Platz in meinem Leben.» Sie wiegt den Kopf hin und her und spricht weiter: «Nicht, dass ich nicht an dich gedacht hätte, nein!» Ihr Blick verfängt sich im Tanz eines Schmetterlings. Wie leicht und lebendig er sich in die Lüfte schwingt! Wie Emma selbst früher einmal. Sie taucht ein in Gedanken an viele Konzertbesuche. Im Getümmel von Menschen bewegt sie sich schamlos im Rhythmus der Musik und singt lauthals mit. Ihr eigenes Summen bringt sie zurück in den Raum.
Der Schmetterling ist weg. Seufzend legt sie das Buch auf die Tischplatte und schaut noch einmal zum Fenster hinaus, in die Weite des blauen Himmels. Der erste Atemzug ihrer Söhne, sie erinnert sich, als wäre es gestern gewesen. Auf ihrer Brust liegt ein kleines Bündel Wärme, das unschuldig das Licht der Welt erblickt. Bedingungslose Liebe durchströmt sie und das Leben verändert sich auf einen Schlag. Stolz, Freude und Dankbarkeit lassen sie im Glücksgefühl baden. Und gleichzeitig schleicht sich eine Sorge um das neugeborene Menschenkind ein. Mit dem neuen Leben kommt auch das Sterben auf die Welt. Der Tod und das Leben sind Geschwister, pflegt sie zu sagen.
Noch immer steht Emma am Fenster, ihr Blick scheint sich in der Weite des Himmels zu verlieren. Wie in Trance redet sie weiter: «Ich habe dir damals keinen Raum gelassen, das weisst du ja.» Und sie nickt leicht, bevor sie sich umdreht, den Stuhl unter dem Tisch hervorzieht und sich darauf fallen lässt. Mit zittrigem Finger streicht sie über die Gesichter ihrer Familie und faltet dann die Hände zusammen. Wie im Gebet flüstert sie: «Das Leben war mir gut gesinnt. Danke!». Eine Weile bleibt sie sitzen und streift im Geiste zurück ins Leben als junge Mutter. Sie liebt es, sich mit ihren Jungen auf den Boden zu setzen, ihnen beim Spiel mitzuhelfen und die Pflichten für einen Moment zu vergessen. Heute staunt sie darüber, wieviel die Frauen damals unter einen Hut gebracht haben. Familie, Arbeit dazu noch ehrenamtliches Engagement. Sogar Freundinnenzeit und Hobbys hatten Platz. Kraftvoll und ehrgeizig sieht sie sich selbst in diesen vergangenen Tagen.
Die Hände lösen sich voneinander und greifen nach der Ecke des Buches. Sie wendet das Blatt und auf der nächsten Seite lächelt ihr zaghaft ein älterer Mann entgegen. Er wirkt müde. «Und auf einmal bist du bedrohlich nah gekommen und ich musste dir begegnen.» Sie sieht sich am Bettrand ihres Vaters sitzen. Hier ist der Tod präsent, er lauert in den weissen Wänden des Krankenhauses. «Du hast mit dir verhandeln lassen,» sagt Emma kaum hörbar, mit Blick auf das Bild ihres Vaters gerichtet. «Gnädig hast du auf meinen Bruder gewartet, bis er sich verabschieden konnte.» Emma greift nach dem Wasserkrug und füllt damit ein Glas. Das Wasser schwappt über und zwei Tropfen landen auf dem geöffneten Buch. Mit dem Ärmel wischt sie diese weg. «Damals lernte ich deine friedvolle Seite kennen, auch wenn der Schmerz mir die Brust fast zerriss. Ich habe dir erlaubt, dass du schwer sein darfst.»
Die steifen Finger greifen nach dem Rand der benetzten Seite, sie heben ihn an und fächern hin und her. Emmas Blick fällt auf das zum Vorschein kommende Bild. Eine Frau mit eingefallenen, blassen Wangen, dunkeln Ringen unter den Augen und einem Tuch auf dem Haupt, schaut direkt in die Linse. Über Emmas Gesicht zieht ein Schatten und in der runzeligen Haut vertiefen sich die Furchen. «Und dann warst du tatsächlich bei mir. Wir waren oft im Zwiegespräch, weisst du noch?» sagt sie und fährt fort: «Ein Hauch vom Tod lag in der Luft. Auch unsere Kinder nahmen ihn wahr und nannten dich beim Namen.»
Momente der Leichtigkeit
Emma greift nach dem Glas und nimmt einen Schluck. Sie hüstelt und stellt das Getränk wieder hin. «Angst hatte ich nicht mehr vor dir, glaub mir! Nur vor dem Loslassen-müssen habe ich mich gefürchtet.» Sie hebt den Finger und murmelt: «Ich glaube, das Leben hat sich auch noch eingemischt, sonst wäre ich heute nicht mehr da.» Emma senkt die Hand und fährt fort: «Doch dieses Bündnis hatte seinen Preis.» Eine Atempause, Lieder senken und heben folgt diesen Worten. Die Augen werden klar und Emma sucht im Fotobuch nach einem Bild. Es zeigt vier schwarze Gestalten schwebend in der Luft vor glutrotem Himmel. Ein Lachen entgleitet der trockenen Kehle der alten Dame. Ihre Familienreise nach Süditalien ist in ihr abgespeichert. Sie riecht das Salz des Meeres, hört das Rauschen der Wellen und fühlt Wärme in ihrer Brust. Diese Momente der Leichtigkeit sind kostbar geworden.
Emma schiebt das Buch in die Tischmitte, stützt sich auf die Kante und richtet sich auf. Sie geht zum Fenster und öffnet es weit. Ein Atemzug dieser Frische, eine Berührung der Sonnenstrahlen im Gesicht. «Leben. Das ist Leben.» Mit einem Lächeln auf den Lippen schlurft sie zum Sessel und nimmt sich im Vorbeigehen eine Decke von der Stuhllehne. Sie setzt sich seufzend hin und bedeckt ihre Knie damit. «Vierzig Jahre hat mir das Leben dazu geschenkt. Wie wundervoll.» Ihre Augen leuchten auf, als ihr Blick auf ein Bild an der Wand fällt. Ein Paar in Trekkingkleidern mit Rucksäcken an den Rücken und einem Hut auf grauem Haar stehen Arm in Arm vor einem spritzenden Wasserfall. Beide schauen mit weit offenen Augen und hochgezogenen Lippen zu Emma herab.
«Manchmal habe ich dich beinahe vergessen. Du mich aber nicht, ich weiss.» Emma gähnt und reibt sich die Augen. Und wieder zieht ihr Geist zurück in eine Zeit vor dem Jetzt. Auf einmal taucht eine dunkelhäutige Frau auf, die Hand ausgestreckt und mit der anderen wild gestikulierend zu ihrer Hütte weisend. Dort angekommen serviert sie ihnen heissen Tee und reisst ein Stück von einem Fladenbrot ab. Das Paar sitzt im Kreise dieser Familie in Stille und in die eigenen Gedanken vertieft. Die Menschen hier teilten ihre Wenigkeit mit uns Unbekannten. Und wir halten so an unseren Habseligkeiten fest. Solches Erleben ist Reichtum pur. Diese Reisen durch neue Welten gemeinsam mit ihrem Mann lehrt sie in Demut und Dankbarkeit. Der Lebenspuls schlägt in solchen Momenten hoch.
Leben und Tod vereint
Emmas Worte scheinen von weit her zu kommen: «Genau dann, wenn das Leben am meisten spürbar war, hast auch du dir deinen Platz erkämpft.» – «Nicht immer bin ich mit dir einverstanden gewesen, glaub nur das nicht!» Die Falten auf der Stirn vertiefen sich. «Beharrlich und gnadenlos schleichst du dich in die Leben ein. Du überforderst viele von uns.» Emma hebt den Kopf, als höre sie etwas in der Ferne und nickt kaum merkbar. «Sei jetzt nicht beleidigt! So ist es doch!» Sie schliesst die Augen und ein Tropfen glänzt im Augenwinkel auf. «Du nimmst so vieles weg, reisst aus dem Leben und lässt uns Zurückgebliebenen im Regen stehen!» Die Träne löst sich aus ihrem Beet und sucht sich den Weg durch die Faltenlandschaft. «Ich weiss, du tust nur deine Pflicht. Und du beschuldigst das Leben dafür.».
Unter den geschlossenen Augenlieder bewegt es sich. Erinnerungen suchen sich den Weg ins Hier. Im Geiste umarmt Emma ihre Liebsten und sagt zu sich selbst: «Je mehr du liebst, je mehr kannst du verlieren.» Stille kehrt ein im Zimmer, das Emma ihr zu Hause nennt.
Ein Schauer zieht über die Gestalt der zierlichen Frau. Sie greift blind nach der Decke und zieht sie hoch bis unters Kinn. Und da, wieder ein Glänzen, einem Diamanten gleich, schleicht sich am Rande der Nase entlang. Die Stimme kommt überraschend fest aus dem entspannten Gesicht: «Jetzt bist du da, ich fühle dich. Du wartest darauf, dass mein Leben den letzten Atemzug tut.» «Am Ende kommen das Leben und der Tod wieder zusammen. Vereinen sich. Und der Mensch ist endlich wieder ganz.»