Maus im Haus – ein Drama ist das nicht. Doch was, wenn das Tierchen hochbegabt ist und sämtlichen Vergrämungsmassnahmen trotzt?
Text: Claudia Senn
Dass wir einenneuen Mitbewohner hatten, ahnte ich, als unser zahnloser, greiser Kater so fasziniert unter das Bücherregal starrte, als blicke ihm von dort die Erfüllung all seiner Katzenträume entgegen. Ich holte die Taschenlampe und leuchtete in die drei Zentimeter kleine Ritze. Tatsächlich! Ganz hinten, an die Wand gepresst, sass ein zitterndes, braun-weisses Tierchen. Trotz seiner fehlenden Zähne hatte der Kater es offenbar geschafft, die Maus zu fangen und in unsere Wohnung zu bringen. Nicht jedoch, sie auch fachgerecht abzumurksen. Es ging bereits gegen Mitternacht. Beim Gedanken an eine Mäusejagd überfiel mich bleierne Müdigkeit. Ich beschloss, der Natur ihren eigenen brutalen Lauf zu lassen, und ging ins Bett.
Am nächsten Morgenerwartete mich in der Küche eine kolossale Lache aus Katzenspucke. Wie konnte ein einziges 5-Kilo-Büsi so viel Sabber produzieren? Vermutlich war es viel Arbeit gewesen, die Maus unter Aufbietung aller verfügbaren Schmierflüssigkeiten am Stück hinunterzuwürgen. Dachte ich. Doch dann sah ich den Kater völlig entrückt in ein neues Loch glotzen: diesmal die Lücke zwischen Schuh- und Küchenschrank.
Im ScheinderTaschenlampe erblickte ich dort einen fein säuberlich aufgeschichteten Hügel aus Katzenfutter-Kroketten. Wieso schiebt denn die Katze ihr Futter in das Loch, dachte ich in meinem frühmorgendlichen Anfall von Begriffsstutzigkeit. Dann erst entdeckte ich ihn. Zumindest hoffte ich, dass es ein Er sei und keine trächtige Sie, die uns bald mit einer fröhlichen Schar Mini-Mäuse beglücken würde. Seelenruhig mampfte er vor sich hin und blinzelte so indigniert ins Licht wie ein Hotelgast, der das «Bitte nicht stören»-Schild an die Tür gehängt hatte und nun trotzdem vom Zimmermädchen geweckt wird. Konnte man hier denn niemals seine Ruhe haben?! Die viele Katzenspucke konnte ich mir nur so erklären, dass der Kater versucht haben musste, seine Beute zu verschlingen, und die zappelnde Maus dann wieder herausgewürgt hatte. Alle Achtung, ein Überlebenskünstler. Der Einfachheit halber nannten wir ihn Mausi.
Die folgendenTageverliefen in friedlicher Koexistenz. Unser Versuch, alle Türen weit aufzusperren, um einen Fluchtkorridor für Mausi zu schaffen, wurde eiskalt ignoriert. Manchmal huschte er an mir vorbei, wenn ich nachts auf einen Mitternachtshappen in die Küche ging. Manchmal hörte ich ihn leise knuspern. Mit der Zeit schien mir, er werde täglich dicker von der Katzenfutter-Mast. In seinem Loch bildete sich eine streng riechende Kloake aus Mäusekötteln. Auf Kammerjäger-Websites googelte ich, dass es sich bei unserem süssen, knopfäugigen Untermieter offenbar um eine Gelbhalsmaus handelte, eine enorm anpassungsfähige Spezies, die – huch! – fürs Leben gern unschuldige Vogelbabys frisst, in Häuser eindringt und dort Elektrokabel durchnagt. Mausi wollte also gar nicht ausziehen! Mausi wollte einen gefährlichen Kurzschluss auslösen und unsere Bude abfackeln! Ausserdem konnte er Hanta-Viren übertragen, die ein potenziell tödliches hämorrhagisches Fieber auslösen. Eine Art Ebola! Mausi musste weg. Ausschaffen, sofort!!!
«Am nächsten, am übernächsten, am überübernächsten und auch am überüberübernächsten Morgen war die Falle leer und der Köder weg. Diese Maus war schlauer, als die Polizei erlaubt.»
Ich kaufteeineLebendfalle aus Plexiglas und räumte die Katzenfutter-Vorräte aus seinem Loch, sodass ihm als Nahrung einzig der leckere Appenzellerkäse in der Falle zur Verfügung stand. Am nächsten Morgen war die Falle leer und der Köder weg. Ebenso am übernächsten Tag, am überübernächsten und überüberübernächsten. Diese Maus war hochbegabt. Warte nur, ich bin auch schlau, dachte ich und band den Köder mit einem Faden an den Auslösemechanismus. Diesmal klappte es, doch Mausi schaffte es in der Nacht, die Falle um neunzig Grad zu drehen, sodass er selbst den Riegel betätigen konnte, um sich wieder in die Freiheit zu entlassen. Ein Walter Stürm der Mäusewelt.
Ich überlegte, obich Mausi vielleicht dazu überreden könnte, für ein paar Selfies mit mir zu posieren. Auf Instagram wäre dasbestimmt der Knaller. David gegen Goliath – das zieht immer. Ich könnte ein Kinderbuch über Mausi schreiben, das dann von Netflix verfilmt würde, den Titel-Song sänge natürlich Taylor Swift. Eine weltweite Mausi-Mania würde losbrechen, und alle Kinder wünschten sich zum Geburtstag meine Merchandising-Artikel: Haarreifen mit Mausi-Ohren, Katzenfutter-Kroketten in Mausi-Form und natürlich Mausi selbst, aus Plastik, mit Stinkefinger. Ich sah schon die Schlagzeilen vor mir, in fetten Boulevardlettern: «Mausi, der Houdini der Nagetiere – entkommt sogar aus dem Magen einer Katze!!!»
Leider erwies sich Mausi als wenig kooperativ. Also holte ich schliesslich zwei Bretter aus dem Keller. Ich öffnete die Haustür, baute mit den Brettern einen Gang zur Tür und stopfte alle Lücken mit Harry-Potter-Büchern zu. Dann ruckelte ich den Schuhschrank zur Seite. Dahinter – warum wunderte mich das nicht? – weit und breit kein Mausi. Na ja, dann war wenigstens wieder mal das Zimmermädchen da, seufzte ich schicksalsergeben und holte einen Lappen. Offenbar mussten wir uns auf eine Langzeit-Beziehung einstellen. Ein bis zwei Jahre werden Gelbhalsmäuse alt, so hatte ich gelesen, «ohne Feinddruck» auch gern älter. Ging das erlahmende Interesse unseres lethargischen Katers noch als Feinddruck durch?
Kaum stand alles wieder an seinem Platz, sah ich, wie Mausi draussen auf dem Laubengang nach einer neuen Bleibe suchte. Er hatte sich längst vom Acker gemacht, als wir noch mit der Vergrämungs-Vorbereitung beschäftigt waren. Eine Weile vermissten wir ihn fast. Doch dann erzählten uns die Nachbarn, dass sich in ihrem Küchenschrank eine Maus eingenistet habe. Eine Maus! Wie die wohl in den dritten Stock gekommen sei? Etwa mit dem Lift? Grosses Erstaunen. Ich zuckte ganz unschuldig mit den Schultern und freute mich. Mausi hatte ein neues Zuhause gefunden.
mag alle Tiere, die nicht stechen oder beissen, auch clevere Supermäuse. Nur mit den Maden, die bei heissem Wetter so prächtig in ihrem Kompostkübel gedeihen, kann sie sich einfach nicht anfreunden.
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