Raus aus dem Alltag, um Neues auszuprobieren. Diesmal: Claudia Senn auf Stadtführung mit «Surprise»-Verkäufer Hans Peter Meier.
Text: Claudia Senn
Zürich, 17 Uhr,Kreuzung Militär-/Langstrasse. Am Hotspot der Zürcher Drogenszene wartet Hans Peter Meier in einer leuchtend roten «Surprise»-Weste auf mich und die anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmer seines «Sozialen Stadtrundgangs». Touristische Highlights werden wir keine zu sehen bekommen, dafür Orte, wo Obdachlose, Suchtkranke und Armutsbetroffene Essen bekommen, medizinische Hilfe, saubere Spritzen oder eine warme Dusche.
An die 1000solcher Touren hat Meier bereits geleitet. Längst nicht alle interessierten sich wirklich für das, was er zu erzählen habe, sagt er. Manche würden auch von wohlmeinenden Chefs dazu verknurrt, die den Stadtrundgang als pädagogisch wertvollen Team-Event gebucht haben. «Am schlimmsten war eine Gruppe Staatsanwälte. Die verzogen zwei Stunden lang keine Miene.» Er lächelt bitter.
Meier, 66,schlohweisses Haar, lakonischer Humor, war einst ein gut verdienender IT-Spezialist mit 16-Stunden-Tagen. Erst frass die Arbeit sein Sozialleben, dann frass ihn selbst der Suff. Schliesslich platzte die Dotcom-Blase. Meier verlor seinen Job, kündigte die Wohnung und beschloss, erst einmal in Asien Halligalli zu machen. Mit der Rückkehr kam der Absturz. Zwei Wochen ass er gar nichts, weil er noch nicht wusste, dass es in Pfarrer Siebers Sunestube gratis Zmittag gibt. Einzige Bedingung sei, dass man sich in eine Liste eintrage, mit seinem richtigen oder einem Fantasienamen – «was dazu führt, dass hier so exquisite Gäste wie Marilyn Monroe und Cary Grant absteigen». Die Pointe zieht, die Gruppe lacht, Meier freut sich.
Eineinhalb Jahrewar er obdachlos. Anders, als man vielleicht denken könnte, sei das im Winter einfacher als im Sommer – «weniger Konkurrenz um die guten Schlafplätze». Am liebsten übernachtete er in der Badi, wo es ruhig und sicher gewesen sei und man nicht von den Scheinwerfern vorbeifahrender Autos aufgeweckt wurde. Stets hatte er den «himalayatauglichen» Schlafsack aus seinem früheren Leben als Extrembergsteiger mit dabei.
Im Jahr 2010hörte er auf zu trinken, gebeutelt von Albträumen, in denen er sich «wie ein riesengrosser Trichter fühlte, in den alles Bier der Welt floss». Heute hat er eine Mansarde am Limmatplatz und verdient sein Geld als «Surprise»-Verkäufer. «Richtig weh» tue es ihm, wenn er einen Obdachlosen sagen höre, er schlafe freiwillig auf der Strasse. Meier weiss genug, um das keinem abzunehmen.
Perspektivenwechsel
Soziale Stadtrundgänge gibt es in Basel, Zürich und Bern. Kosten: 25 bis 30 Franken, Dauer: ca. zwei Stunden. Die Themenschwerpunkte sind auf die individuelle Lebensgeschichte der Stadtführerinnen und Stadtführer zugeschnitten. Infos und Buchung: surprise.ngo/ stadtrundgaenge
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