Was trägt? 30. September 2024
Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von Hildegard Knef und der Suche nach dem Fundament.
«Von nun an gings bergab» sang einst die deutsche Sängerin Hildegard Knef. Die Liedzeile – allerdings mit umgekehrter Aussage – ging mir als einer der ersten Gedanken durch den Kopf, als ich nach der Schulteroperation aus der Narkose erwachte: «Von nun an geht’s bergauf.» Das dachte ich auch, als der Orthopäde an meinem Bett stand und seine Präzisionsarbeit rühmte. Da wusste ich ja noch nicht, dass mir noch ein paar Spitaltage mit Schmerzen und ständiger Übelkeit bevorstehen würden. Doch spätestens seit dem ersten Espresso wieder daheim ist es definitiv: «Von nun an geht’s bergauf.»
Erst jetzt realisiere ich, dass sich die zwei Monate vor der Operation wie ein dunkler Schatten über mein Gemüt gelegt haben: der gebrochene Fuss, die Wochen im Rollstuhl, die Schulterschmerzen, die mich an meine Grenzen brachten. Das Warten auf die dringend notwendige Prothese. Die Zeit, die nicht vergehen wollte – obwohl ich viel las, in der Familienvergangenheit grübelte, mich in Erinnerungen verlor oder Musik und Podcasts hörte. Ich sinnierte stundenlang über meine Situation. Die Frage «Warum ich?» erübrigte sich: Ich glaube weder an eine göttliche Hand noch an eine höhere Schicksalsmacht. Vielmehr suchte ich nach dem Fundament in meinem Leben. «Was trägt?» war meine grosse, drängende Frage.
Tja, was gibt Halt, wenn es den «Lieben Gott» von damals nicht mehr gibt? Als Kind vertraute ich ihm alle meine kleinen und grossen Sorgen an –, er wusste ja, was für mich das Beste war. Jetzt bemühte ich Elemente aus der ressourcenorientierten positiven Psychologie: Ich kann immer noch für so vieles dankbar sein – für mein Umfeld zum Beispiel, das mich trägt und stützt. Ich betrachtete meine «Leidenszeit» als Selbsterfahrungstrip auf den Wellen des Lebens, das seinen eigenen Gesetzen folgt. Ich versuchte, mich im ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen aufgehoben zu fühlen. Ich wühlte in meiner Wort-Schatztruhe und stützte mich auf Gedichte und Sprüche von Lyrikern, Philosophinnen, Theologen oder Naturwissenschaftlerinnen. Der Gedanke der Dichterin Hilde Domin zum Beispiel: «Ich setzte den Fuss in die Luft und sie trug.» Woher nur nimmt diese Frau dieses Vertrauen?
Worauf baue ich, wenn alle Stricke reissen? Was trägt mich durch schwierige Zeiten? Woher nehme ich die Kraft, wenn wirkliche Herausforderungen anstehen? Je besser es mir geht, umso mehr rücken solche Fragen wieder in den Hintergrund, und ich komme ihnen weniger denn je auf die Spur.
In der Physio begegne ich einer alten Bekannten aus dem Nachbardorf. Sie erkundigt sich nach meiner Schulter. Bereitwillig gebe ich Auskunft und frage munter: «Und du? Bein, Arm oder Rücken?» «Nein», antwortet sie, «explodierender Krebs. Überall Metastasen.»
Ich bin beschämt und die Frage bleibt: Was wird mich tragen, wenn dereinst mein Lebensweg nur noch kurz und sein Ende abzusehen ist? Ich weiss es nicht. Zurzeit bin ich so froh, dass für mich gilt: «Von nun an geht’s bergauf.»
- Haben Sie auch schon darüber nachgedacht, was oder wer Sie in schwierigen Situationen trägt? Haben Sie darauf eine Antwort gefunden? Wir würden uns freuen, wenn Sie uns davon berichten oder die Kolumne teilen würden. Herzlichen Dank im Voraus.
- Hier lesen Sie weitere «Uschs Notizen»
Sie besitzen noch kein Abonnement der Zeitlupe?
Abonnieren Sie die Zeitlupe und lesen Sie alle unsere Artikel auch online.
Ich möchte die Zeitlupe abonnieren