Auf nach Norden
Tradition und Aufbruch, Natur und Kultur, alte Bräuche und moderne Technik: Die Zeitlupe-Leserreise von Helsinki über Tallinn nach Riga zeigt Finnland, Estland und Lettland von ganz verschiedenen Seiten.
Text: Annegret Honegger
Weiter Himmel über endlosen Wäldern und Stränden, mittelalterliche Altstädte, Häfen, in denen mächtige Schiffe anlegen, und lange, helle Sommerabende: Finnland, Estland und Lettland haben viel gemeinsam. Auch die wechselvolle Geschichte. Dänen, Deutsche, Schweden und Russen herrschten hier, und alle hinterliessen ihre Spuren in Sprache, Kultur, Architektur und Kulinarik.
So entdeckt man auf der Zeitlupe-Reise Kaufmannshäuser und Speicher aus roten Backsteinen der Hanse-Händler, Schlösser und Burgen von Ordensrittern, Barock-Paläste und Kathedralen mit Zwiebeltürmen aus der Zaren-Zeit sowie bunte Sommerhäuser wie in Astrid Lindgrens Bullerbü. Auch die Unesco weiss um die Schönheit der Metropolen am Baltischen Meer. Die Altstädte von Tallinn und Riga gehören zum Weltkulturerbe. In Riga steht auch die Neustadt auf der Liste mit ihren fast 800 gut
erhaltenen Jugendstilbauten. Es lohnt sich, vom Tallinner Domhügel, vom Turm der Rigaer Petrikirche oder vom Riesenrad in Helsinkis Südhafen aufs Dächermeer zu schauen und den Blick über die Ostsee schweifen zu lassen.
Wichtiger als Weihnachten
Für eine ungestörte Nacht sollte man die dunklen Vorhänge gut zuziehen. Am längsten Tag steht die Sonne in diesen Breitengraden fast neunzehn Stunden am Himmel. Die Sommersonnenwende feiert man in Skandinavien und im Baltikum als ausgelassenes Fest, wichtiger gar als Weihnachten. Sogar die Kinder dürfen die ganze Johannisnacht wach bleiben, wenn Feuer brennen, in bunten Trachten
getanzt und gesungen wird. Der Sage nach können dann die Tiere sprechen, und wer sieben verschiedene Blüten unters Kopfkissen legt, träumt von der oder dem Zukünftigen.
Betriebsame Städte mit einem Postkartenmotiv nach dem andern wechseln sich auf dieser Reise mit der Ruhe und Schönheit der Natur ab. Im nur eine Autostunde von Tallinn entfernten Lahemaa Nationalpark etwa gibt es statt Häuser, Kirchen und Touristen Bäume, Bäume und noch mehr Bäume. Man streift durch wunderschöne Moorlandschaften und nur von Findlingen bevölkerte Strände, Überbleibsel der letzten Eiszeit, die nun im Sand liegen wie dösende Seehunde. Schnurgerade sind die Strassen, links und rechts stehen Kiefern so stramm wie Schiffsmasten, als die sie auch genutzt wurden. Strassenschilder warnen vor Elchen: Mit den mehrere Hundert Kilo schweren Tieren zu kollidieren, ist für alle Beteiligten lebensgefährlich.
Stoff zum Nachdenken
Mitten in den Wäldern erbauten sich Adlige Gutshöfe mit Parks, die an französische Vorbilder erinnern. In den verstreuten Dörfern erzählen die traditionellen Holzhäuser die Geschichte der Seefahrer und Fischer. Nicht fehlen darf in Estland die «Külakiik», die Dorfschaukel aus Baumstämmen, auf der es halsbrecherisch hoch hin- und hergeht. Auch Beerenpflücken und Pilzesammeln sind Volkssport. Die ergiebigsten Plätze bewahren Eingeweihte wie Staatsgeheimnisse.
Neben städtischer und ländlicher Idylle zum Geniessen regt die Reise auch zum Nachdenken an. Etwa in den Museen und Gedenkstätten in Riga, die an die dunklen Zeiten erinnern, als Nazis und Russen Tausende in Ghettos pferchten, verschleppten und ermordeten. Trotz Euro und allem, was zum westlichen Lebensstil gehört: Die älteren Leute erinnern sich gut an die fremden Herrscher. Und die gebeugten alten Frauen, die vor dem Zentralmarkt in Riga Blumen verkaufen, zeigen, dass längst nicht alle vom Wirtschaftswunder in den ehemaligen Sowjetrepubliken profitieren.
Solidarität mit der Ukraine
Umso bedeutender sind die Symbole der Unabhängigkeit. Diese errangen die baltischen Staaten ab den späten 1980er-Jahren in einer Revolution, bei der gesungen statt geschossen wurde. Etwa mit dem «Baltischen Weg», einer Menschenkette, die 1989 fast 700 Kilometer von Tallinn bis nach Vilnius in Litauen reichte.
Stolz streckt in Riga die im Volksmund «Milda» genannte Freiheitsstatue drei goldene Sterne in die Höhe. Am anderen Ufer des Flusses Daugava erhebt sich die neue Nationalbibliothek. «Jede Generation ist hier einmal erobert worden. Und immer sprachen die Eroberer von Befreiung», erklärt die Reiseleiterin. Worauf man die vielen Flaggen, die sich mit der Ukraine solidarisieren, nochmals mit ganz anderen Augen sieht.