Das unverlässliche Leben 14. Oktober 2024
Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von Feriengrüssen und einer geplanten Reise nach Amerika.
Von überall her erreichen mich Feriengrüsse: Unsere Nachbar-Freundin besucht einen Suaheli-Sprachkurs in Sansibar, meine Cousine ist mit Mann, Hund und Camper auf Sylt unterwegs, meine Freundin verbringt mit ihrem Sohn und den Enkeln Badeferien auf einer griechischen Insel und mein Bruder und die Schwägerin sind im Wallis am Wandern. Auf dem Handy erreichen mich Bilder aus Südafrika und von der Atlantikküste, aus dem Tessin, aus Arosa und aus Italien. Auf dem WhatsApp-Status verfolge ich die Reise ehemaliger Kolleginnen durch Schottland und die Familienferien früherer Nachbarn in Frankreich. Gefühlt mein halber Bekannten- und Freundeskreis ist in den Herbstferien.
Auch meine Hausärztin plant ihren Urlaub. Sie erzählt es, als sie mir für die bevorstehende Schulteroperation die nötigen Blutuntersuchungen macht. «Seit der Pandemie fahre ich zum ersten Mal wieder für drei Wochen weg», sagt sie. Die Reise soll sie und ihren Mann quer durch die USA führen, von einem Nationalpark zum nächsten. Ich spöttle wegen ihrer Liebe zu Trump-Land. Sie lässt sich nicht beirren und schwärmt von der grossartigen Landschaft, und wie sehr sie in dieser Weite und Grenzenlosigkeit zur Ruhe käme. In vier Tagen soll es losgehen. Sie sei zurück, um die Nachkontrolle der Operationswunde zu machen und die Fäden zu entfernen. Ich wünsche ihr schöne Ferien.
Wie es in Trump-Land gewesen sei? frage ich meine Hausärztin einen Monat später. Sie schüttelt den Kopf. Ihr Mann sei schwer erkrankt, einen Tag vor Abflug hätten sie die Reise absagen müssen. Statt der amerikanischen Nationalpärke lägen Horrorwochen im Unispital hinter ihnen. Obs gut kommt? Sie hat wenig Hoffnung. «So ist das Leben», sagt sie. Sie wiederholt es noch ein paar Mal: «C’est la vie.» Sie habe ganz andere Pläne gehabt: «Doch das Leben geht eigene Wege.» Ich weiss nichts mehr zu sagen. Dass auch wir unsere dreiwöchigen Spanienferien absagen mussten, habe ich längst verwunden. Wir können sie nächstes Jahr nachholen. Meine Hausärztin und ihr Mann haben diese Möglichkeit nicht mehr.
In ihrem neuen Buch «Stirb und werde!» zitiert die Bestatterin Sabine Brönnimann ein Gedicht von Rose Ausländer:
schweben mit dem Vogel
mit der Sonne leuchten
rollen mit der Erde
mit euch allen feiern
das unverlässliche Leben
Ich möchte mit dem Vogel schweben, mit der Sonne leuchten und mit der Erde rollen. Ich möchte das Leben feiern, solange und wo immer es geht. Dieses Leben voller Wunder und Schönheit. Dieses unverlässliche Leben, das sich plötzlich und jederzeit in ein Meer von Trauer und Tränen verwandeln kann.
- Geht es Ihnen ähnlich wie unserer Kolumnistin? Möchten Sie das Leben ebenfalls feiern, solange es geht? Oder haben Sie Mühe damit? Wir würden uns freuen, wenn Sie uns an Ihren Gedanken teilhaben lassen oder die Kolumne teilen. Herzlichen Dank im Voraus.
- Hier lesen Sie weitere «Uschs Notizen»
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