Innovation ist Familientradition
In Bergün GR hat sich eine Bauernfamilie einen neuen Markt und damit eine neue Zukunft erschlossen. Unter dem Label Bio-Bergün verkaufen sie Produkte vom Hof. Mit grossem Erfolg. Nun investieren sie in weitere Pläne.
Text: Roland Grüter, Fotos: Yannick Andrea
Am Ende des Dorfes, wo die Albulastrasse eine starke Rechtskurve macht, trennt der Asphaltstreifen Bergün in zwei Zeitzonen. Auf der einen Seite regiert die Vergangenheit. Das Wasser des Dorfbrunnens plätschert seit 135 Jahren in den steinernen Trog, so wie er es schon getan hat, bevor das Dorf 1903 mit dem Ausbau der Albulabahn Anschluss an die Welt bekam und damit einen imposanten Aufschwung nahm. Ihm gegenüber steht ein altes Engadinerhaus mit dunkel gegerbtem Holzstall, hinter dessen Fassade der Zukunftsglaube regiert.
In diesem Haus lebt seit fünf Generationen die Bauernfamilie Schmidt. Immer wieder hat sie an der Uhr gedreht, hat sie neu erfunden. Einer der Ahnen hat das Schwimmbad im Dorf initiiert. Ein anderer fuhr den ersten Karren mit Pneurädern durch Bergün. Anfang der 1990er-Jahre stellte die Familie ihren Betrieb auf Bio um, liess den Hof in Zeiten zertifizieren, als man im Tal biologische Landwirtschaft noch für einen Spleen der Städter hielt. «So modernes Zeugs ist nichts für uns hier oben.» Diesen Satz bekamen die Schmidts oft zu hören – aufhalten liessen sie sich davon nicht.
Fast 40 Jahre führten Romy (62) und Marco Schmidt (64) den Betrieb, 2012 übergaben sie ihn den Jungen. Seither haben Sohn Riet (36) und dessen Partnerin Franziska Amstad (34) das Sagen. Die Alt-Bauern wussten, dass mit dem Handwechsel für sie die Zeit auf dem Hof abgelaufen war, und zogen ins Dorf. Für Senior-Chef Marco ein grosser Schritt: Er war auf «seinem» Hof geboren, hatte ihn all die Jahre nur für die Rekrutenschule und den einmonatigen Sprachaufenthalt im Welschen verlassen. Ein Jahr lang kehrte er nach dem Wegzug täglich ins Haus an der Strassenkurve zurück, mittlerweile hat er sich abgenabelt und beruflich neu orientiert. Nur ab und zu schaut er noch im Stall vorbei, aus Neugier – und um Riet ein bisschen zu ärgern.
Ein Ziel verfolgen die vier noch immer gemeinsam: Sie wollen dem Familienhof neue Einkünfte sichern. Denn die 18 Kühe, die im 1993 errichteten Laufstall hinter dem Kirchlein leben, und die 40 Hektaren Land geben auf die Dauer zu wenig her. Die Wiesen reichen hoch bis auf 2000 Meter und müssen extensiv bewirtschaftet werden, der Ertrag ist entsprechend bescheiden. Nun bauen Riet und Franziska den ausrangierten Kuhstall neben dem Wohnhaus um, füllen diesen mit vier Ferienwohnungen und allerlei Wirtschafträumen. Agro-Tourismus, Ferien auf dem Bauernhof, soll ihnen neue Gäste und damit Einnahmen sichern. Sie investieren viel Geld in ihre Pläne. «Ein Wagnis, aber wir gehen es ein», sagt Franziska.
Würste für Touristen
Ein Husarenstück ist den Schmidts bereits geglückt. Anfang der 1990er-Jahre begann Romy, vor der Haustüre Würste an Touristen zu verkaufen. Die Einnahmen waren minim, dennoch weitete Romy das Angebot aus. Der Absatz stieg. Also kamen Sirup, Konfi, Käse dazu. Und später Frischfleisch von den zweijährigen Ochsen, die sie selber aufziehen. 1997 schafften sie für den kleinen Hofladen den ersten Kühlschrank an, er hatte vier Tablare. Nachfrage und Umsätze wuchsen. Die Produkte, die die Schmidts mittlerweile produzieren, füllen längst einen ausrangierten Velowaggon der Appenzeller Bahnen. Er steht draussen vor ihrem Bauerngarten. «Der Direktverkauf wurde zum wichtigen Einnahmefaktor», sagt Franziska Amstad. «Und wir gehen den Weg, den Romy und Marco eingeschlagen haben, konsequent weiter. Irgendwann wollen wir uns ganz darauf ausrichten und keine Produkte mehr an Grossverteiler weitergeben.»
Mittlerweile beliefern sie auch Kundinnen und Kunden rund um die Schweiz, Vater Marco reist im Winter mit dem Frischfleisch durchs Land. 14 Kälbchen und Ochsen lassen sie jährlich schlachten, fast eine Tonne Fleisch verarbeiten und verpacken sie – alles in Handarbeit, alles zusammen. «Da muss man miteinander auskommen, sonst ginge das nicht», sagt Franziska.
Bio-Bergün, so der Name des florierenden Bauernbetriebes, ist gross geworden. Nun folgt der nächste Schritt. In der ausgebauten Scheune entstehen bis zum nächsten Winter Ferienwohnungen, neue Wirtschafts-, Kühl- und Gefrierräume. Bislang war die Herstellung der vielen Hof-Produkte übers alte Haus verteilt, alles improvisiert, die Kapazitäten ausgeschöpft. «Nun können wir nochmals richtig Gas geben», sagt Franziska und lacht.
Soll doch der Brunnen ennet der Strasse bis in alle Ewigkeit weiter plätschern. Unter ihrem Dach herrscht Aufbruchsstimmung. Damit es ihnen nicht so ergeht wie anderen Bauern im Lande. Jedes Jahr schliessen 1000 Betriebe die Türen zu. Für immer.
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