Die Allgemeinpraktiker und -praktikerinnen kommen langsam ins Alter. Wer folgt, wenn sie in den Ruhestand treten? Was heisst das für die Patienten? Eine Hausärztin aus Zürich und ein Hausarzt aus dem Bündnerland berichten.
Rückenschmerzen, ein hartnäckiger Husten, eine Wunde zum Nähen – die Liste der Gesundheitsprobleme, deretwegen man den Allgemeinpraktiker aufsucht, ist lang und vielfältig. Doch es gibt immer weniger «klassische» medizinische Grundversorger. Der «Tokter», der über Generationen alle Familienmitglieder medizinisch betreut und ihre Krankengeschichte kennt, wird zunehmend zur Ausnahmeerscheinung. Und wenn, dann sind die Praxen hoffnungslos überlaufen, Kranke ohne Notfallproblem müssen lange auf Termine warten, neue Patientinnen und Patienten werden schon gar nicht aufgenommen.
Gehen der Schweiz die Hausärzte aus? Glaubt man einer Studie der Universität Basel, wonach bis ins Jahr 2021 drei Viertel der heute tätigen Grundversorger in den Ruhestand treten werden, sieht es ganz danach aus. Vergleichsweise niedrige Löhne und mangelnde Akzeptanz innerhalb von Fachkreisen haben den Beruf anscheinend unattraktiv gemacht.
Andererseits besteht auch Hoffnung: Die junge Medizinergeneration ist bereit, das Erbe anzutreten, wenn auch zu geänderten Bedingungen. Statt der One-Woman- oder One-Man-Show in der Einzelhausarztpraxis entstehen Gruppenpraxen mit Teilzeitpensen. Weitere Gesundheitsdienstleister wie Apotheken, Physiotherapeuten, Hebammen, Ernährungsberaterinnen, aber auch die Telefon- und Onlineberatung bekommen mehr Kompetenzen (siehe Interview mit Philippe Luchsinger, Seite 17). Das bedeutet auch, dass Patientinnen und Patienten umdenken und selber mehr Verantwortung für ihre Gesundheit übernehmen müssen.
«Nur nicht Ärztin!» Am Ende der obligatorischen Schulzeit war Daniella Shmerling, 63, noch nicht sicher, was sie werden wollte. Sie wusste lediglich, was sie nicht wollte: Medizin studieren wie Mutter, Vater, Grossmutter, Grossvater. Dass sie letztlich auf Umwegen doch den Arztberuf ergriff, war vielleicht Schicksal. Dass die Zürcherin vor 23 Jahren eine Stadtpraxis übernehmen konnte, in der schon zwei Arztgenerationen während je dreissig Jahren gewirkt hatten, war Zufall. Das Interesse für das Wohl der Menschen war ihr aber in die Wiege gelegt worden und ist bis heute, eineinhalb Jahre vor der Pensionierung, ihre tägliche Motivation und oberstes Gebot.
Ein Beruf wie eine bunte Blumenwiese
Als Hausärztin «alter Schule» bezeichnet sich Daniella Shmerling auf der Website ihrer Praxis in Zürich-Höngg. Was das für sie heisst? Zuerst einmal nicht ohne «Uniform» – weisses Oberkleid und Hose – vor die Patientinnen und Patienten treten. Fünf Tage in der Woche für diese da sein und keine Patienten ablehnen. Ausser Kinder, weil sie findet, dass deren Behandlung spezielle Erfahrung erfordere. Nur ethisch vertretbare Abklärungen und Therapien durchführen. Das Röntgengerät etwa verkaufte sie nach einigen Jahren wieder, als sie realisierte, dass sie zur Amortisation mehr Bilder machen musste, als wirklich nötig waren
«Ich mag die Vielfalt und das Handwerkliche. Das kann ich etwa bei kleinen Eingriffen ausleben», sagt die Zürcherin. «Dieser Beruf ist wie eine Blumenwiese mit all ihren Farben und den verschiedenen Pflanzen – manche gefallen mehr, manche weniger.» Auch die eigene Chefin zu sein, behagt ihr. Sie sei dafür aber wirklich für alles die «Tätschmeisterin»; sogar wenn es gelte, eine Glühbirne auszuwechseln oder sich mit den neusten digitalen Trends auseinanderzusetzen.
Am Abend steht noch die Administration an. «Es wird jedes Jahr mehr, zum Teil schlage ich mich mit absurden Berichten und Zeugnissen herum», erklärt sie kopfschüttelnd. Umso mehr ist sie dann enttäuscht, wenn zum Beispiel einer offensichtlich kranken Person die Rente gekürzt wird. Den Papierkram werde sie nicht vermissen, die Menschen und ihre Schicksale hingegen schon. Viele sind mit ihr zusammen alt geworden, man ist sich nahe gekommen. Einige betreut sie wie ihr Vorgänger zu Hause oder im Altersheim, wo sie einen Nachmittag pro Woche auf Hausbesuch geht.
Sich eine Kollegin oder einen Kollegen zur Verstärkung in die Praxis zu holen, war nie ein Thema für Daniella Shmerling. Die Kehrseite ihrer Vollzeitstelle sind dafür lange Tage, die an der Energie zehren. Als sie noch regelmässig Notfalldienst machte, kamen auch lange Abende und Nächte dazu. «Familientauglich war das gar nicht. Aber ich hatte weder Mann noch Kinder zum Versorgen.» Seit dem vorletzten Jahr zieht sie es vor, eine Ersatzsteuer zu bezahlen, um nicht mehr nachts ausrücken zu müssen. «Wenn es wenigstens wirkliche Notfälle wären! Aber häufig sind es banale Probleme, die auch am nächsten Tag gelöst werden könnten.»
Notfalldienste in der Nacht und Hausbesuche kennt Gian Bundi, 62, nur zu gut. Seit 30 Jahren ist er mit Leib und Seele Landarzt im bündnerischen Val Lumnezia, einem Tal mit mehreren Nachbarschaften und rund 2000 Einwohnern. «Ich war mehr als einmal über eine halbe Stunde zum Patienten unterwegs – auch bei Schnee und Eis, das rentiert niemals», erzählt er. Glücklicherweise seien Hausbesuche aber viel seltener nötig. Dank dem Einsatz der Spitex und weil die Leute mobiler sind als früher, macht er statt 500 bis 800 Besuche pro Jahr noch etwa deren 300. Auch Notfälle wie Asthma-Attacken oder Herzinsuffizienzen in der Nacht würden aufgrund der verbesserten Prävention und Medikation seltener auftreten.
Nicht besser heilen, besser begleiten
Schon während des Studiums stand für den jungen Mann aus Curaglia GR der Berufswunsch fest. «Die allgemeine Medizin sagte mir am meisten zu, weil das Gebiet so abwechslungsreich ist. Fachärzte gehen bei einem bestimmten Organ oder Körperteil sehr ins Detail. Die Hausärzte sind nicht so spezialisiert, dafür breit aufgestellt.» Siebzig Prozent der Beschwerden, die zum Besuch beim Hausarzt führen, können direkt dort behandelt werden, sagt die Statistik. Bei Gian Bundi ist das sicher so. Seine von der Gemeinde 2017 neu erbaute Hausarztpraxis in Vella, dem Hauptort des Tals, ist die einzige im Umkreis von zwanzig Kilometern und entsprechend ausgerüstet. Nebst Sprechund Behandlungszimmern gibt es einen Raum für Ultraschall und einen für Röntgen sowie ein Medikamentenlager. «Einmal kam ein Ferienkind aus Hamburg in unsere Praxis. Es hatte sich beim Skifahren den Arm gebrochen. Die Eltern wunderten sich, dass wir innert einer halben Stunde das Röntgen gemacht, einen Gips angelegt und den kleinen Patienten mit Schmerzmitteln versorgt hatten.»
Von Dezember bis März, wenn am meisten los ist, beschäftigt die Praxis noch einen bereits pensionierten Kollegen. Dann leben ausser den Einheimischen viele Wochenendtouristen und Feriengäste im Einzugsgebiet – 10 000 touristische Übernachtungen in gut drei Monaten. Grippezeit und Wintersportunfälle halten die Mediziner auf Trab. «Manche Patienten aus dem Unterland gehen häufiger in Vella zum Hausarzt als daheim», schmunzelt Gian Bundi. Bis zu vier Generationen pro Familie betreut er und schätzt diese Kontinuität. Etwa wenn Erbkrankheiten vorliegen, könne er die Patientinnen und Patienten zwar nicht besser heilen, aber besser begleiten. Und wenn sie alt und gebrechlich geworden sind, dann verarztet er die Menschen im nahe gelegenen Altersheim. Zu den geriatrischen Patienten des umtriebigen Arztes gehören auch noch die Bewohnerinnen eines zweiten Altersheims, nämlich die Dominikanerinnen im Kloster Ilanz.
Er hätte sich auch ein Leben als Hausarzt im Unterland vorstellen können, sagt Gian Bundi. Im Lugnez habe es ihm, der selbst Bündner ist, aber immer gefallen und es sei für die ganze Familie eine gute Wahl gewesen. Trotzdem sei das Leben in den Bergen nicht jedermanns Sache, schon gar nicht für Ausländer. Man habe als «dä Doggter» schon eine spezielle Position in der Gemeinde. «Die einen integrieren sich sofort, die anderen nie», sagt er. In ein paar Fällen, wo vergeblich Ärzte zum Besetzen von Stellen gesucht wurden, hätten sich deren Ehefrauen gegen die Bergregion entschieden.
Erfolgreiche Nachwuchsförderung
Als sogenannte Lehrpraxis erhält Gian Bundi regelmässig Unterstützung durch Medizinstudenten oder angehende junge Ärztinnen oder Ärzte, die Praktika bei ihm absolvieren. Dafür wurde in der Praxis eigens ein separater Raum vorgesehen, in dem die jungen Kollegen wohnen können. Die Nachwuchsförderung war schon immer ein Anliegen des Allgemeinpraktikers und – wie sich gezeigt hat – Gold wert für die Planung der Nachfolge: In einem jungen Internisten aus der Region, der bei ihm «lernte» und gegenwärtig als Oberarzt im Spital arbeitet, hat der 62-Jährige bereits jetzt seinen Praxisnachfolger gefunden. «Im Winter 2021 werde ich 65. Bis dann möchte ich mich ganz aus dem Beruf zurückziehen.» Damit dies reibungslos klappt und der Nachfolger auch von der Patientenschaft gut aufgenommen wird, verbringt dieser schon tageweise Einsätze in Vella. Ab Juli dieses Jahres steigt er an der Seite von Gian Bundi mit einem Teilpensum ein, nach dessen Pensionierung will er die Praxis selbstständig führen.
Und der «alte» Doktor? Der freut sich, nach so vielen Jahren Dauereinsatz entlastet zu werden – «man braucht mehr Erholungszeit, wenn man älter ist» – und bald Zeit für anderes zu haben. Zum Beispiel Wandern oder E-Biken in der herrlichen Bergwelt zusammen mit seiner Frau, die jetzt noch als Praxismanagerin waltet. Seinem Hobby, dem Strahlen, nachgehen, mal zur Abwechslung in einer Grossstadt leben und auch die Enkel im Unterland öfter besuchen. «Als unsere drei Kinder klein waren, war ich nicht oft bei der Familie, sondern stand die ganze Woche und selbst am Samstag im Dienst der Patienten.»
Daniella Shmerling weiss noch nicht, wer den Mietvertrag für ihre hübsche Stadtpraxis an bester Lage direkt bei der Tramhaltstelle übernehmen wird. Sie möchte im Sommer 2020 mit knapp 65 in Pension gehen. «Ich finde, dass das ein vernünftiges Alter zum Aufhören ist. Seit dem Kindergarten werde ich morgens vom Wecker geweckt. Ich freue mich sehr auf den Luxus, liegen bleiben zu können und keinen verplanten Tag zu haben.» Ob ihr die viele Freizeit dann nicht zu viel werde, ist eine andere Frage. «Jetzt definiere ich mich über meine Funktion als Frau Tokter. Ohne das werde ich mich wohl neu erfinden müssen!»
Zunächst muss sie aber die Nachfolgerin oder den Nachfolger finden. Ein Inserat in einer Fachpublikation brachte noch keinen Erfolg. «Von den Räumen her wäre auch eine Doppelpraxis möglich», sagt sie. «Ich selbst bin zwar kein Fan von Jobsharing, aber die Zeiten ändern sich, und die jungen Leute bevorzugen andere Arbeitsmodelle. Das Wichtigste ist mir, dass meine Patientinnen und Patienten ihre traditionsreiche Hausarztpraxis nicht verlieren.»
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