Alter Meister und junge Wilde
Der Zürcher Dokumentarfilmer Giancarlo Moos hat in St. Gallen die ungewöhnliche Zusammenarbeit eines alten Massschneiders aus Italien und einer jungen Modedesignerin mit laotischen Wurzeln begleitet. Es gibt kein Happy End, aber viel zu lachen.
Beide sind sie in ihrem Fach erfolgreich: Cosimo Urgesi (74), einer der letzten Feinmassschneider in St. Gallen, geht seinem Handwerk gemäss über Generationen weitervermittelten Regeln nach. Ly-Ling Vilaysane (36), mehrfach preisgekrönte Modedesignerin und im Appenzellerland aufgewachsen, praktiziert als schöpferische Methode das wilde Draufloskreieren ohne einengende Normen.
Weil die junge Nähkünstlerin vom alten Maestro lernen möchte, wie man einen Herrenanzug schneidert, kommt es in den gemeinsamen St. Galler Atelierräumen zur Zusammenarbeit, welche der Filmemacher Giancarlo Moos über eineinhalb Jahre mit seiner Kamera einfühlsam begleitet hat.
Cosimo Urgesi, der in den 1960er-Jahren mit der ersten Italiener-Generation in die Schweiz kam, lernte sein Handwerk bereits als Elfjähriger unter der Fuchtel eines strengen Lehrmeisters in Süditalien. Präzision und Schnelligkeit zeichnen seine Finger aus, Nadel und Fingerhut scheinen fast mit seinen Händen zu verwachsen. Masse und Abläufe hat der erfahrene Schneider nach jahrzehntelanger Übung exakt im Kopf.
Die kreativ-chaotische Arbeitsweise von Ly-Ling Vilaysane, deren Eltern als Boat People aus Laos in die Schweiz kamen, ist für den Vertreter der alten italienischen Schule ein Desaster voller Fehler und Verstösse gegen seine Prinzipien. Die Versuche des alten Lehrmeisters, sein Gegenüber zur Schülerin zu machen und nach seinem Vorbild zu formen, scheitern. Bald muss er merken, dass die junge Modeschöpferin ebenso für ihre Kunst brennt wie er, und dass auch er profitiert, wenn er es wagt, sich zu öffnen und zu verändern.
Wo nicht nur zwei verschiedene Auffassungen von (Handwerks)Kunst aufeinanderprallen, sondern auch zwei Generationen und Kulturen, ist für eine explosive Mischung gesorgt. Konflikte und Kämpfe um die Kunst mit Nadel und Faden sind vorprogrammiert.
Der 81-minütige Film zeigt das Hin und Her von Auseinandersetzungen, (Wieder)Annäherungen, Missverständnissen und Kompromissen. Obwohl die Zusammenarbeit schliesslich scheitert und es kein Happy End gibt, gewinnen doch beide Seiten, indem sie voneinander lernen und den Respekt für die Arbeit des anderen nie verlieren. Der Faden, der Jung und Alt verbindet, ist die gemeinsame Leidenschaft für die Nähkunst, welche die Gräben zwischen verschiedenen Generationen und Welt(anschauung)en überwindet.
«Ly-Ling und Herr Urgesi» ist ein Plädoyer dafür, die gewohnten Bahnen vielleicht auch im Alter dann und wann zu verlassen, über den eigenen Schatten zu springen und jenseits der persönlichen Komfortzone neue Räume zu entdecken.
«Ly-Ling und Herr Urgesi» von Giancarlo Moos kommt am 3. Oktober in die Kinos. Mehr unter: lylingurgesi.ch
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