Für Rollstuhlfahrerinnen und -fahrer sind Treppen und Randsteine oft unüberwindbare Hindernisse. Der Rollstuhl Scewo Bro – von einem Schweizer Start-up entwickelt – kann Treppensteigen und vieles mehr. Eine Probefahrt.
Nun stehe ich vor der Treppe. Was für mich sonst ein Klacks und in Sekunden erledigt ist, scheint nun unüberwindbar. Denn ich sitze in einem Rollstuhl. Der ist zwar sehr bequem und motorisiert. Wenn ich Gas gebe, spüre ich sogar etwas den Fahrtwind an meinen Ohren. Doch nun stehe ich da – vor der Treppe.
Zum Glück sitze ich nicht in einem gewöhnlichen Rollstuhl, sondern im Scewo Bro, einem Prototyp des Zürcher Start-ups Scewo. Vor der Steuerung auf der rechten Armlehne ist ein Smartphone angebracht. Auf dem Display sind übersichtlich verschiedene Symbole zu sehen. Ich drehe mich mit dem Bro um die eigene Achse, was bei dem zweirädrigen Modell, das elegant balanciert, kein Problem ist. Einmal mit dem Rücken zur Treppe, drücke ich auf das Piktogramm, das den Scewo Bro auf einer Treppe zeigt. Danach ziehe ich den Joystick gerade nach hinten, und mit einem leichten Ruckeln geht es die einst hinderlichen Stufen hoch. Unter meinem Allerwertesten fährt der Rollstuhl Raupen aus, die aus widerstandsfähigem Gummi gefertigt sind. So weich, dass sie gut an den Kanten fassen, so hart, dass sie monatelang halten.
Wenige Sekunden später habe ich den ersten Abschnitt der eindrücklichen Treppe im Landesmuseum in Zürich hinter mir. Eine Gruppe chinesischer Touristen staunt und filmt mit ihren Handys den Treppenaufstieg dieses technischen Wunderwerks, hinter dem ein junges Team ehemaliger ETH- und ZHdK-Studenten (Zürcher Hochschule der Künste) steckt. Vor gut vier JahStägeli uf ren haben sich acht Maschineningenieur-Studenten und zwei Designer zusammengetan und ihre Lego-Kisten ausgepackt. Lego? Mithilfe der Plastikklötzchen haben sie Modelle gebaut und kamen so zum Schluss, dass zwei grosse Räder und zwei Raupen die beste Lösung sind für einen treppengängigen Rollstuhl. Danach wurde während neun Monaten getüftelt und gebaut, bis der erste Prototyp Scalevo stand oder besser rollte.
«Der Scalevo schaffte es die Treppe hoch, doch der Übergang am Ende war kritisch», erinnert sich Bernhard Winter, Chef von Scewo. Die Telefone liefen beim Start-up Sturm. Alle wollten eine Probefahrt. Angespornt vom Erfolg meldete das Team sich für den Cybathlon 2016 an, eine Meisterschaft für Mensch und Maschinen. Der Scalevo kam genau einen Meter weit … Danach war Schluss. Trotz dieses herben Rückschlags machten die jungen Ingenieure weiter und gründeten schliesslich 2017 die Firma Scewo. Ihre Vision: Der Rollstuhl muss funktionieren, und wenn man ihn betrachtet, müssen die Augen funkeln. Es sollte ein Rollstuhl werden mit dem Coolness-Faktor eines Teslas.
Wie das innovative US-Elektroauto hat der schicke Scewo extrem viel zu bieten und sieht erst noch besser aus. Die Raupen helfen nicht nur die Treppen hoch – selbst in alte Eisenbahnwaggons soll er es schaffen –, sondern auch auf rutschigem Untergrund. Gerade in Museen, aber auch in anderen Alltagssituationen fühlt man sich als Rollstuhlfahrer nicht auf der Höhe. Wer das Giraffen-Piktogramm im Ruhemodus des Scewo drückt, wird auf eine Sitzhöhe von 90 cm gehoben. So findet manche Konversation auf Augenhöhe statt und Exponate müssen nicht länger von unten begutachtet werden. Handkehrum lässt sich der Sitzplatz auf 47 cm absenken, so dass man gut in einem Restaurant «unter den Tisch» fahren kann.
Nebst diesen mechanischen Vorteilen lässt sich der Sitz auch individuell anpassen. Rückenlehne und Fussstützen sind elektrisch verstellbar. Die Sitztiefe kann mechanisch angepasst werden. All diese praktischen Funktionen hat Designer Thomas Gemperle in eine schicke Schale gepackt, die mit leuchtenden Akzenten und LED-Scheinwerfern ausgerüstet ist. Seine durchdachte Arbeit wurde 2018 mit einem Beazley-Design-Preis ausgezeichnet.
Zurzeit besteht die Möglichkeit, den Prototyp in Zürich und in Winterthur Probe zu fahren. Dafür braucht man sich nur auf der Website scewo. ch anzumelden. Auch wenn der Rollstuhl schon sehr ausgereift ist und durch viele Details wie eine Wertsachentasche unter dem Sitz besticht, noch steht die Serienproduktion vor der Tür. Damit soll es Ende 2019 losgehen. Erste Bestellungen sind bereits eingetroffen, obschon der Kaufpreis mit CHF 35 500.– nicht ohne ist. Wie weit dieser von der IV übernommen wird, ist noch offen. Doch die eifrigen Tüftler von Scewo sind mit der Invalidenversicherung in Verhandlung, und die Aussichten für eine Vollübernahme des Kaufpreises sehen nicht schlecht aus. Voraussetzung ist natürlich, dass man einen Anspruch auf eine Treppensteighilfe hat.
Nach meiner Testfahrt bin ich froh, wieder auf meinen beiden Füssen zu stehen. Doch einen besseren Wegbegleiter als diesen schnittigen Rollstuhl kann ich mir nicht vorstellen, und die staunenden Blicke der Besucherinnen und Besucher im Landesmuseum, als es rückwärts die Treppe hoch ging, werde ich auch nicht so schnell vergessen.
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