Un(aus)haltbare Zustände
1968 erschüttert die Welt – auch diejenige von Robert Stettler, Chefdekorateur im Berner Nobelkaufhaus Quatre Saisons. Der Protagonist in Alain Claude Sulzers neuem Roman «Unhaltbare Zustände» zerbricht am Wandel der Zeit.
Noch ein paar Jahre sind es bis zur Pensionierung von Robert Stettler. Der Chefdekorateur im Berner Nobelkaufhaus Quatres Saisons gestaltet dort seit Jahrzehnten sechsmal jährlich die sieben grossen Schaufenster. Eine vielbewunderte Inszenierung, die – perfekt bis ins letzte Detail – besonders zur Weihnachtszeit für die ganze Stadt ein mit Hochspannung erwartetes Highlight bedeutet.
Pflichtgefühl, Fleiss, Genauigkeit und Firmentreue sind Stettlers Tugenden und Erfolgsgaranten. Der Junggeselle lebt unauffällig in seiner bescheidenen Wohnung, die er bis zu ihrem Tod mit seiner Mutter teilte, liest Churchills Memoiren und trägt zum Arbeitskittel selbstverständlich Krawatte.
Neues hält bei ihm nur langsam Einzug: Stettler kauft sich einen Fernseher mit sagenhaften sechs Sendern (die Fernbedienung lehnt er entrüstet ab) und trinkt am Feierabend neuerdings auch mal ein, zwei oder drei Bier, was die strenge Mutter sicher missbilligt hätte. Verständnis findet er im Briefwechsel mit der Pianistin Lotte Zerbst, der zweiten, allerdings weniger genau geschilderten Hauptfigur des Romans.
1968 bringt nicht nur einen deutlich jüngeren Konkurrenten als «frischen Wind» ins Geschäft, sondern auch Stettlers ganze Welt durcheinander. Plötzlich ist das Traditionelle wertlos, das Alte überholt und der Bewährte überflüssig. Auf den Strassen protestieren jeanstragende Studenten, am Berner Münster hängt eines Morgens eine Vietcong-Fahne, die Nachbarn sitzen am Feierabend im Unterhemd auf dem Balkon und sogar der Chef trägt eine Beatlesfrisur. «Der Haarschnitt veränderte sich wie die Moral», beobachtet Stettler.
Mit dem «Schlaf der Gerechten», den er bisher schlief, ist es vorbei. Stettler suchen Alpträume vom jungen Konkurrenten heim, er spioniert diesem nach und steigert sich in einen erbitterten Zweikampf hinein. Ein Kampf, den er ebenso verliert wie denjenigen gegen sein eigenes Älterwerden. Unhaltbar, unaushaltbar werden die Zustände, bis sich Stettler schliesslich zu einem verzweifelten Protestakt entschliesst.
Alain Claude Sulzer, 1953 in Riehen bei Basel geboren, schildert in seinem neusten Roman einfühlsam und mit feiner Ironie in gewohnt gepflegter Sprache die Geschichte von einem, der in einer sich verändernden Welt unter die Räder kommt. Der Roman spielt 1968 und ist ein gelungenes Porträt der Geschehnisse jener Zeit, an die sich viele beim Lesen erinnern werden. Doch die Frage, die das Buch stellt, ist auch heute aktuell: Wie gehen wir mit dem Wandel um, dessen Tempo viele überfordert? «Unhaltbare Zustände» ist für den Schweizer Buchpreis 2019 nominiert.
Alain Claude Sulzer: Unhaltbare Zustände. Roman, Galiani Verlag Berlin, 270 Seiten, ca. CHF 33.–. https://www.alainclaudesulzer.ch/
Zum Buch: http://www.galiani.de/autor/alain-claude-sulzer/1516/
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