Der Spaghettikönig
Alle paar Wochen besuchen die vier erwachsenen Enkelinnen Claudia (32), Sabrina (32), Tamara (27) und Stephi (30) ihren Grossvater Louis Schoch. Seit dem Tod ihrer Grossmutter vor sechs Jahren ist der gemeinsame Spaghettitag Tradition.
Text: Usch Vollenwyder, Fotos: Pia Neuenschwander
«Opa ist der beste Koch», steht auf der Küchenschürze von Louis Schoch. Der 90-Jährige steht in der kleinen Küche seiner Dreieinhalbzimmerwohnung und arrangiert liebevoll Avocado- und Feigenschnitze, Mozzarella-Perlen, Artischockenherzen und Scheiben von gekochtem Ei auf den bereitgestellten Salattellern. Er garniert sie mit Herzchen aus Tomaten, Peperoni und Radieschen, die er schon am Abend zuvor ausgestochen hat. Die Vorspeise mache er immer als Erstes, zusammen mit den Apero-Häppchen, die er anschliessend auf den Balkon an die Kühle stelle.
Auf dem Herd köcheln eine Gemüsesauce und eine Sauce Bolognese. Das Pesto aus dem Basilikum, das Louis Schoch in den Balkonkistchen selber zieht, steht in einer kleinen Schüsselbereit. An einem Haken hängen vier Schürzen seiner verstorbenen Frau, in den Taschen steckt eine süsse Überraschung. Der Hobbykoch, der sich seine Kochkünste in einem Kurs der Männerriege angeeignet hat, wirft einen letzten prüfenden Blick auf den geschmückten Tisch: Die Tischkärtchen stehen am richtigen Platz. Dieses Mal hat er winzige Brunnentröglein aus einer halben Nussschale gebastelt und sie mit einem Mini-Praliné gefüllt.
Um halb zwölf Uhr läutet es an der Tür: Sie sind da. Im Nu füllt sich die kleine Wohnung mit Gelächter und Gesprächsfetzen, mit frischem Wind und junger Energie. Der Grossvater wird herzlich umarmt und mit einer Blume beschenkt. Sabrina, Tamara, Claudia und Stephi hängen ihre Mäntel in die Garderobe und setzen sich um den Salontisch mit dem Apero-Teller. Wie jedes Mal holt Stephi die Flasche Freixenet aus dem Kühlschrank. Der Schaumwein gehört zur Tradition – wie später der Gewürztraminer zu den Spaghetti oder Grossmutters Schürze, die vor dem Essen umgebunden wird.
Die Enkelinnen sprangen ein
Zum 39. Mal ist Spaghettitag. Der erste fand einige Zeit nach der Beerdigung von Louis Schochs Frau Bethli vor sechs Jahren statt. Sohn und Tochter hatten damals abgemacht, den verwitweten Vater abwechslungsweise einmal in der Woche zu besuchen. Als an einem Tag beide verhindert waren, sprangen die Enkelinnen ein. Bis dahin hatten die Schwestern Sabrina und Tamara mit ihren Cousinen Claudia und Stephi nur an Familientreffen Kontakt gehabt. Nun machten sie sich zu viert auf den Weg vom Baselbiet in die Bundeshauptstadt. Zur Vorspeise habe es einen «Königssalat» aus der Migros gegeben – und flugs wurden die Enkelinnen zu Prinzessinnen.
Zum neunzigsten Geburtstag im vergangenen Frühling luden die vier ihren Grossvater in eine Stadt im nahen Ausland ein. Louis Schoch wünschte sich ein Wochenende in Colmar. Die fragenden und bewundernden Blicke von Tischnachbarn im Hotel und in den Restaurants habe er genossen. Die jungen Frauen hoffen, dass sich die regelmässigen Treffen noch lange fortsetzen lassen. «Solange es geht», sind sie sich einig. Und wissen schon, was sie machen werden, wenn ihr Grossvater einmal nicht mehr so fit ist: «Dann werden wir in seiner Küche selber kochen – oder er wird zu uns kommen.»
Nach der Apero-Runde ruft Louis Schoch zum Tisch. Er serviert die Vorspeiseteller und kocht dann die Spaghetti – er selber mag keinen Salat. Dann stellt er die Saucen auf den Tisch. «Grosspapi-Pesto ist einfach der Schlager», rühmen Claudia und Stephi. «Man spürt, dass sie mit Liebe gemacht wird», sagt Sabrina. «Er ist sowieso der beste Grosspapi der Welt», schwärmt Tamara, die Jüngste. Louis Schoch geniesst die Wertschätzung und Zuneigung seiner Enkelinnen.
Alles ist Thema
Es geht lebhaft zu am Tisch. Alle reden durcheinander. Kindheitserinnerungen werden ausgetauscht: Wie Grosspapi auf Familienwaldspaziergängen mit ihnen jeweils vorausgegangen war, Beeren gepflückt und zu Hause einen Kuchen gebacken habe. Die jungen Frauen tauschen sich aber auch über ihre Wohn- und Arbeitssituation aus – und selbstverständlich über die Liebe. «Wir reden über alles.» Louis Schoch sitzt da und hört sich lächelnd an, was die heutige Jugend beschäftigt. Alle Freunde werden einmal zu einem Spaghetti-Tag eingeladen, damit der Grossvater sie auch kennenlernt. «Aber eigentlich gehört dieser Tag uns», sagt Sabrina.
Erst seit kurzem lässt der Grossvater zu, dass seine Prinzessinnen beim Abwasch helfen: Stephi räumt die Spülmaschine ein und putzt den Herd. Tamara und Sabrina trocknen ab, und Claudia füllt die restlichen Saucen in die Tupperwares, die die jungen Frauen jedes Mal wieder mitbringen. Sie freuen sich: Was nicht gegessen wird, dürfen sie verteilen. Bei der Vanillecreme zum Dessert zücken die vier ihre Agenden und suchen einen nächsten Termin. Sie sind sich einig: Das Jubiläum «vierzig Mal Spaghettitag» soll gebührend gefeiert werden. ❋