Der Kernbeisser, auch bekannt als «Finkenkönig», ist unser grösster heimischer Fink. Sein Schnabel ist ausserordentlich wuchtig und erlaubt es diesem Spezialisten, selbst die härtesten Pflanzensamen zu knacken.
Text: Esther Wullschleger Schättin
Wenn er an einem der winterlichen Futterhäuschen eintrifft, fällt der Kernbeisser augenblicklich auf: Ein wuchtiger, finkentypisch kegelförmiger Schnabel ziert den in Braun- und Beigetönen gemusterten Vogel, dessen Kopf ungewöhnlich gross wirkt. Gegenüber der bunten Schar der kleineren Meisen, Spatzen und Grünfinken ist der Neuankömmling eine imposante Erscheinung. Kein Wunder also, dass er sich am Futterbrett gut durchsetzen kann, wie es aucher populäre Name «Finkenkönig» andeutet.
Finken sind grösstenteils Körnerfresser, und der Kernbeisser, unser grösster einheimischer Finkenvogel, ist ein Spezialist für besonders harte Pflanzenkerne. Während andere Vögel etwa Kirschen mögen und ungeschützte Kirschbäume gern von Amsel, Drossel oder Star heimgesucht werden, interessiert sich der Kernbeisser mehr für die Kerne der süssen Früchte. Kaum ein anderer Vogel kann Kirschsteine aufbrechen, um an den nahrhaften Inhalt zu gelangen. Doch der Kernbeisser, ausgestattet mit einer enormen Kiefermuskulatur, nutzt diese Ressource sehr gekonnt und knackt die harten Kerne scheinbar mit Leichtigkeit.
Vorliebe für Chriesisteine
Das Aufbrechen der Kirschsteine fordert dem rund 55 Gramm wiegenden Fink eine erstaunliche Kraft ab. Etwa 40 Kilogramm muss sein Schnabel auf den Kern ausüben. Dabei weist der Kernbeisser-Schnabel einige Anpassungen auf, die ihn zum effizienten «Spaltwerkzeug» machen. Während der Oberschnabel im Gaumenbereich mit zahlreichen Längsrillen versehen ist, trägt der Unterschnabel zwei raue Wülste, zwischen welchen der Kern fixiert werden kann. Mithilfe ihrer Zunge bringen die Kernbeisser den Kirschkern in Position, um ihn entlang seiner Längsseite in zwei Hälften zu spalten. Den weichen Inhalt verzehren sie und die beiden Schalenhälften, typische Überbleibsel einer Kernbeisser-Mahlzeit, werden ausgestossen und fal-len zu Boden.
Die Vorliebe des Finkenkönigs für Chriesisteine kannte man offenbar schon lange. So sind volkstümliche Namen überliefert wie Chriesibisser, Chirsifrässer oder Steibisser. Weil das Knacken der harten Kerne noch aus einiger Distanz gut zu hören ist, heisst er auch Chriesichlöpfer. Schon «Tiervater» Brehm berichtete, dass die grossen Finkenvögel öfter in Kirschbaumkulturen auftraten (und deshalb eine bekannte Erscheinung waren) oder auch in Ge-müsegärten, wo sie von den Erbsen und Gemüsesamen naschten. In «Brehms Thierleben» von 1865 wird der Kernbeisser als ein etwas plumper und träger Vogel charakterisiert, der lieber lange an einer Stelle sitzen bleibt und sich ungern zeigt. Eher widerstrebend fliegt er auf und sein Flug wirkt verhältnismässig schwerfällig.
Ein selten gesehener Gast
Der Kernbeisser ist in Mitteleuropa nicht gefährdet, doch kommt er natür-licherweise nicht in grosser Dichte vor. Er besiedelt Laub- und Mischwälder, wo er sich vor allem in den Baumwipfeln aufhält und deshalb meist wenig zu sehen ist. In seinem Waldlebensraum verzehrt er ebenfalls Hartes wie die Samen des Schwarzdorns und der Hagebuchen. Selbst die für Säugetiere stark giftigen Eibensamen gehören zu seiner üblichen Nahrung.
Die für uns Menschen so gefährlichen aufgebrochenen Eibenkerne scheinen diesen samenfressenden Vögeln, die einen ganz anderen Stoffwechsel haben, nicht zu schaden. Im Winter schätzen die Kernbeisser auch Vogelbeerbäume – der Samen und nicht der roten Beerenfrüchte wegen. Zudem verzehren sie Knospen der Laubbäume und, vor allem zur Nestlingszeit im Sommer, verschiedene Insekten oder deren Larven.
Artgenossen unerwünscht
Etwa Ende März beginnen die Kernbeisser mit der Brut. Die Paare sichern sich ein grosses Territorium als Nistgebiet, in welchem sie keine weiteren Artgenossen mehr dulden. Von den Baumwipfeln aus wacht und ruft das Männchen, singt seinen bescheidenen Gesang, oft unruhig den Standort wechselnd und bereit, jeden Störenfried aus dem Revier zu vertreiben. Das Nest wird gut versteckt, meist ebenfalls hoch oben in einer Baumkrone angelegt. Wenn die Jungen ausgeflogen sind, werden sie eine Weile von den Eltern geführt und gefüttert. Es dauert offenbar einige Zeit, bis ihre Schnäbel genügend ausgereift sind, sodass sie harte Kerne selber knacken können. Das Weibchen ist allgemein etwas blasser gefärbt als das Männchen.
Interessanterweise verändert sich die Farbe des Schnabels ebenfalls, wenn diese Vögel im Verlauf der Jahreszeiten vom Pracht- ins Schlichtkleid wechseln: Im winterlichen Schlichtgefieder ist der Schnabel des Kernbeissers gelblich-beige, im Prachtkleid während der Balz- und Brutzeit im Frühjahr und Sommer erscheint er stahlblau. ❋
Verschiedene «Schnabelmodelle» erlauben es samenfressenden Vögeln, harte Samenkörner zu öffnen. Während Finken wie vor allem der Kernbeisser einen konischen Schnabel haben, tragen Papageienvögel Krummschnäbel, die zum Teil ebenfalls mit gewaltiger Kraft beissen können. Die Grossen Alexandersittiche, die in bestimmten klimamilden Gebieten Deutschlands verwildert sind, knacken mit ihrem wuchtigen Krummschnabel ohne weiteres Kirschkerne. Beobachter erzählten, dass die Sittiche dabei die süssen Kirschfruchtteile oft einfach fallen lassen und gezielt den nahrhaften Kern verzehren.
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