Paranoia 15. April 2020
Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder ist 69 Jahre alt. Als Angehörige der Risikogruppe erzählt sie aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von Augenmass und gesundem Menschenverstand.
In der Nacht habe ich von Corona geträumt. In einer langen Menschenkette wurde ein riesengrosses Virus weitergereicht, wie anno dazumal in der Schule, als wir in einer Reihe stehend den schweren Medizinball weitergeben mussten. Corona hängt an mir wie eine Klette, tagein, tagaus. Es bestimmt mein Leben, das Geschick des Landes, den Lauf der Welt. Es ist so allgegenwärtig, dass ich längst nicht mehr sicher bin, ob ich ihm noch mit gesundem Menschenverstand begegne. Es prägt meinen Umgang mit Menschen, wie ich mir das nie gewünscht habe.
Mein Sohn hat Geburtstag und wir feiern – im Garten, am grossen Tisch und mit genügend Abstand. Er reicht mir das Glas: «Probier mal, ist dieser Schämpis gut?» Erst als ich das Glas an die Lippen führe, kommt es uns beiden gleichzeitig in den Sinn: «Meine Güte, das geht ja gar nicht …» Er will die vier Kerzen auf der Geburtstagstorte ausblasen – für jedes Lebensjahrzehnt eine – da hält er im letzten Augenblick inne: «Halt, liegt sicher nicht drin.» Genauso wenig wie eine Umarmung oder ein Geburtstagskuss.
Als mir einer meiner Hundefreunde von seiner hustenden und fiebrigen Frau erzählt, mache ich einen zusätzlichen Schritt von ihm weg hinein ins Feld. Ich überlege mir, ob ich mich auf dem Spaziergang auf die Bank setzen darf, von der sich gerade jemand erhoben hat. Peinlich: Ich wage es nicht. Im Auto liegt neu ein Fläschchen Desinfektionsmittel – für alle Fälle. Ich ertappe mich dabei, wie ich auf meinen seltenen Expeditionen ausserhalb meiner vier Wände – auf die Post oder zum Velomechaniker – Türen mit dem Ellbogen aufschiebe und Knöpfe mit über die Hände gezogenen Jackenärmeln drücke. Habe ich das richtige Augenmass verloren?
Ich weiche zurück, wenn jemand auf mich zukommt. Ich mache einen Bogen um andere Menschen. Ich passe auf, dass ich niemandem zu nahe trete. Ich mache, was ich machen muss, und wahrscheinlich noch viel mehr. Aus Überzeugung? Aus Gehorsam? Aus Angst? Oder weil ich denke, dass es alle machen? Ist mir mein gesunder Menschenverstand abhandengekommen? Im Hofladen pralle ich mit einer älteren Frau zusammen; ich will raus, sie rein. Beide weichen wir erschrocken zurück und entschuldigen uns wortreich. Dann lacht sie: «Ich hoffe doch sehr, dass uns ein solches Verhalten nicht zur Gewohnheit wird.» Das hoffe ich auch – von ganzem Herzen.
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