Kraftort für Körper und Seele
Der Wald ist Wirtschaftsfaktor, Freizeitpark und Rückzugsort. Zusammen mit Tausenden von Tier- und Pflanzenarten bildet er eine einzigartige Lebensgemeinschaft. Ein Tag im «grünen Meer» lädt zum Beobachten und Staunen ein.
Text: Usch Vollenwyder
Sucht euch ein ruhiges Plätzchen, taucht ein in die Atmosphäre des Waldes, vergesst für einen Moment alle Gedanken und öffnet stattdessen eure Sinne», sagt die Biologin und Ökologin Diana Soldo.
Die Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer, vierzehn Frauen und zwei Männer, verlassen die breite Wegkreuzung und suchen sich einen Pfad zwischen den Bäumen hindurch. Einige legen sich auf den Waldboden, andere setzen sich auf einen Baumstrunk. Wieder andere lehnen sich an den Stamm einer Tanne, spüren dabei die raue Rinde im Rücken und wenden ihr Gesicht der Sonne zu.
Der Himmel über den über den noch kahlen Baumkronen ist strahlend blau. Wer die Augen schliesst, sieht hinter den Lidern Schatten tanzen. Es riecht nach Bärlauch, Pilz und Erde. Im dürren Laub raschelt es, Vögel zwitschern und pfeifen, ein Specht klopft. Auch ein Flugzeug, das Rattern der Üetlibergbahn und ein leiser, dumpfer Lärmteppich der nahen Stadt sind zu hören. Nach einer Viertelstunde schlägt Diana Soldo ihre Klangschale an. Nur zögernd kehren die Kursteilnehmenden von ihrer sinnlichen Waldexpedition in die Realität zurück.
«Der Wald als Ressource» heisst der Weiterbildungskurs, den Pro Senectute Schweiz für Mitarbeitende aus allen Kantonen ausgeschrieben hatte. Er will die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ermuntern und befähigen, den Wald als Kraftquelle für sich selber und für die ihnen anvertrauten älteren Menschen zu nutzen. Sie sollen den Wald mit ihren Sinnen erfahren und seine gesundheitsfördernde Wirkung kennenlernen. Geleitet wird der Kurs von der doktorierten Biologin Diana Soldo, Treffpunkt war das Forsthaus im Zürcher Stadtwald am Üetliberg. Auf dem Programm stehen Waldführungen und «Waldbaden», das Sammeln und Verwerten von Kräutern sowie der Austausch
Alle Menschen, die schon einmal geknickt oder traurig in den Wald gegangen und mit neuer Energie wieder herausgekommen sind, wissen: Ein Waldspaziergang erfrischt und tut gut, relativiert Sorgen und Ängste, mindert Ärger und Stress.
Eintauchen ins grüne Meer
Neu ist, dass sich seit wenigen Jahren auch die Wissenschaft mit den Auswirkungen des Waldes auf die Gesundheit des Menschen befasst; seit kurzem ist der Aufenthalt im Wald als gesundheitsfördernde Massnahme zu einem regelrechten Trend geworden. Gesundheitsmagazine, Zeitschriften und eine Vielzahl von neuen Büchern preisen die Heilkraft von Bäumen, Gesundheitscoaches und Waldtherapeuten organisieren geführte Waldaufenthalte, Hotels und Tourismusregionen werben mit Waldaktivitäten.
2017 wurde auf der Ostseeinsel Usedom der erste europäische Kur- und Heilwald eröffnet. Die Reha-Klinik Zurzach bietet neben Garten- und Landschaftstherapien auch Waldtherapien an. Im Berner Gantrischgebiet, im Val Müstair oder in der Walliser Aletscharena kann man unter kompetenter Leitung ein Waldbad geniessen, vor einem Jahr eröffnete im Toggenburg der Baumwipfelpfad Neckertal.
Der Trend kommt aus Japan, wo sich bereits 1982 «Shinrin Yoku» zu etablieren begann. «Waldbaden» nennt sich dieser achtsame und absichtslose Aufenthalt im Gehölz; wörtlich übersetzt heisst es «Eintauchen in die Atmosphäre des Waldes». Vor allem die Stadtbevölkerung sollte sich wieder vermehrt dem Wald und seiner positiven Wirkung aussetzen. Seit 2004 wird in Japan sein gesundheitsfördernder Einfluss auch wissenschaftlich untersucht. Inzwischen ist «Shinrin Yoku» eine vielfach angewandte Stress-Management-Methode, Waldmedizin ein eigenständiger Forschungszweig und die Waldtherapie eine anerkannte Heilmethode.
Reduktion der Stresshormone
Auch in Europa bestätigen Studien: Der Aufenthalt im Wald reduziert das Stresshormon Kortisol und stärkt das Immunsystem, regelt Blutdruck und Puls, verringert Angstzustände, Wut und Depressionen, verbessert die Schlafqualität und steigert die Vitalität. Schon ein kurzer Waldspaziergang sorgt für Stressabbau und verhilft zu mehr innerer und äusserer Widerstandskraft. Ein Waldbad anstelle eines Spaziergangs erhöht den positiven Effekt um ein Vielfaches. Statt vorwärtskommen heisst es innehalten, statt denken fühlen, statt reden schweigen. Zusätzliche Atem- und Entspannungsübungen intensivieren die Wahrnehmung des eigenen Körpers und der umgebenden Natur.
Wie genau der Wald auf den Menschen einwirkt, wird weiterhin erforscht. Ob und welche Rolle dabei die typischen Farben, Geräusche und Gerüche, die mit dem Wald verbundenen Kindheitserinnerungen, die ruhige Umgebung ohne Hektik und Druck oder die pflanzlichen Duftmoleküle in der Waldatmosphäre spielen, ist wissenschaftlich noch nicht restlos geklärt. Jedenfalls scheine es eine Wechselwirkung und eine Kommunikation zwischen Mensch und Wald zu geben: «Von dieser Lebensgemeinschaft in und mit dem Wald weiss die Wissenschaft erst einen Bruchteil», sagt Waldexpertin Diana Soldo.
Geschenke aus dem Wald
Dabei war die Beziehung zwischen Mensch und Wald schon immer eine besondere. Künstlern und Dichterinnen war und ist der Wald ein Ort der Inspiration, stressgeplagten Städtern ein Sehnsuchtsort, der Holzindustrie ein Rohstofflieferant. Nach wie vor wird der Wald industriell genutzt, gleichzeitig ist er zu einem grossen, kostenlosen Freizeitpark für Biker und Joggerinnen, Naturfreunde, Wanderinnen und Hundespaziergänger geworden. Während der ganzen Menschheitsgeschichte bedeutete der Wald Heimat und Lebensgrundlage: Wildtiere, Beeren und Pilze, Wildkräuter und Wurzeln sicherten das Überleben früherer Sippen.
Diana Soldo lebt selber im Wald, umgeben von alten Bäumen – ein Privileg und Geschenk sei es, Teil dieser Lebensgemeinschaft zu sein und sie auch nutzen zu dürfen. Wildkräuter kommen bei ihr vor allem im Frühjahr regelmässig auf den Tisch. Vor dem Mittagessen leitet sie die Gruppe zum Kräutersammeln an. Sie weist auf die giftigen Buschwindröschen und Hahnenfussgewächse hin und zeigt den Unterschied zwischen dem bekömmlichen Bärlauch und den giftigen Herbstzeitlosen und Maiglöcklein. Schliesslich verteilt sie kleine Beutel, und einzeln oder zu zweit machen sich die Kursteilnehmenden auf die Suche nach essbaren Kräutern, sammeln hier ein Blatt und da eine Rispe, hier eine Blüte und dort eine Rosette.
Die Köchin und Biologin Melanie Kleineberg kontrolliert, ob wirklich alle gesammelten Kräuter essbar sind: Sauerklee, Löwenzahn und Spitzwegerich, Schlüsselblümchen, Labkraut und Scharbockskraut, Brennnesseln, Sauerampfer und Giersch, Taubnessel und Gundelrebe. Während einige Kursteilnehmerinnen zufrieden vor dem Forsthaus in der Sonne sitzen und andere die gemachten Erfahrungen austauschen, helfen ein paar bei der Zubereitung des Mittagessens: Sie reichern die von Melanie Kleineberg vorbereiteten Speisen – es gibt Linsensuppe, Couscous, Quark und Hummus – mit den gefundenen Kräutern an. Das Essen an den langen Holztischen schmeckt, alle haben Hunger und geniessen die Mahlzeit.
In der Vorstellungsrunde am Morgen hatten die Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer von ihrer Beziehung zum Wald erzählt. Eine Liebesbeziehung sei es, sagte Irene, eine Ortsvertreterin aus dem Kanton Aargau. Peter, ein Wanderleiter ebenfalls aus dem Kanton Aargau, ist immer wieder überrascht, wie entspannend und beglückend sich eine Waldwanderung auf ihn auswirkt. Eine Teilnehmerin aus dem Kanton Bern erzählte, welch grosses Bedürfnis und welche Sehnsucht sie während einer schweren Krankheit nach dem Wald hatte: «Ich spürte, dass mir der Wald beim Gesundwerden helfen würde.»
Kraft aus der Ewigkeit
Während die einen einen eher pragmatischen Zugang zum Wald haben, fühlen sich andere zutiefst verbunden mit ihm und empfinden sich als Teil seiner Vielfalt. Vielen vermittelt er die Ahnung einer grösseren, alles umfassenden Dimension. «Es gibt eine Kraft aus der Ewigkeit, und diese ist grün», sagte Hildegard von Bingen schon im zwölften Jahrhundert. «Biophilie» ist der Fachbegriff, der auf den Philosophen und Psychoanalytiker Erich Fromm zurückgeht und die Liebe zu allem Lebendigen umschreibt. Der amerikanische Soziobiologe Edward O. Wilson wählte in seinem 1984 erschienen Buch «Biophilia» für das gleiche Phänomen einen evolutionsbiologischen Ansatz:
Der Mensch ist genetisch dazu bestimmt, die Natur zu lieben. Diana Soldo nimmt aus ihrer Jackentasche ein Messband und legt es mithilfe einer Teilnehmerin um den Stamm einer alten Eiche. 350 Zentimeter misst der Umfang – gerechnet mal 0,8; so lasse sich ihr ungefähres Alter bestimmen. Der Blick der Gruppe gleitet in die Höhe: Dann muss diese Eiche um die dreihundert Jahre alt sein; längst vor der Französischen Revolution begann sie am Üetliberg bereits zu wachsen. Ehrfurcht vor dem Baumriesen wird spürbar, klein und unwichtig kommt man sich angesichts dieser Zeitdimension vor. Jemand streichelt sacht über Flechten, Efeu und Moos, die sich am Stamm der alten Eiche hochranken.
Der Nachmittag geht zu Ende. In einer letzten Sequenz machen sich die Pro-Senectute-Mitarbeitenden Gedanken, wie sie den Wald vermehrt in ihren beruflichen Alltag integrieren können: Wildkräuter zu den alten Menschen nach Hause bringen, Waldgeschichten erzählen, auch mit dem Rollstuhl einen Ausflug in den Wald wagen. Einen Wildkräuterkurs anbieten, Kurse wie Qigong oder Yoga direkt im Wald abhalten, spezifische Waldwanderungen organisieren… Beim Abschied klingen Gefühle von Zuneigung und Zärtlichkeit für das Wunderwesen Wald an. Und das tiefe Bedürfnis, ihm Sorge zu tragen. W
Weitere Informationen
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Diana Soldo bietet auch Walderlebnisse zu Hause, in Alters- und Pflegeheimen oder in Spitälern an: Telefon 079 697 95 29, Mail waldexkursionen@gmx.ch, www.waldexkursionen.ch
- Nächstes Jahr bietet Pro Senectute Schweiz zwei Kurse mit Diana Soldo an: «Der Wald als Ressource» sowie «Wildkräuter kennen, sammeln und verarbeiten». Informationen: Pro Senectute Schweiz, Bildung und Kultur, Lavaterstrasse 60, Postfach, 8027 Zürich, Telefon 044 283 89 27, Mail christa.bula@prosenectute.ch, www.prosenectute.ch, Telefon 062 824 20 19
- Internetadressen: www.waldwipfelpfad.ch, www.wildout.ch, www.waldbaden-gantrisch.ch, www.aletscharena.ch
- Buch: Karin Greiner, Martin Kiem: Wald tut gut! Stress abbauen, Wohlbefinden und Gesundheit stärken. AT-Verlag, Aarau 2019, 264 S. mit vielen Fotografien, ca. CHF 29.90
Bäume tauschen Informationen aus
Lesen Sie hier das Interview mit der Biologin und Expertin Florianne Koechlin.
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