«Wir sind nicht besser als die anderen»
Lorenz Keiser steht seit über 30 Jahren auf der Bühne und nimmt dabei selten ein Blatt vor den Mund. Die Corona-Krise stellt den Kabarettisten vor eine völlig neue Herausforderung. Wie geht er damit um? Darf man darüber Witze machen? Hier seine Antworten.
Interview: Marc Bodmer
Bevor Sie auf die Bühne getreten sind, haben Sie Kolumnen und Kurzgeschichten geschrieben. Wie unterscheidet sich die Arbeit auf Papier von der auf der Bühne?
Der Aufbau einer Pointe funktioniert anders. Papier ist ruhiger. Man hat mehr Zeit. Es ist auch wichtiger, bereits im Aufbau die Dinge komischer zu formulieren. Man kann mit Formen und Verkleidungen arbeiten.
Wie meinen Sie das?
Ich kann beispielsweise schreiben wie Goethe oder wie ein Jurist. Im Gesprochenen muss man konziser, präziser sein. Der Inhalt muss sofort verstanden werden, sonst funktioniert es nicht. Man kann zwar jemanden imitieren, aber diese Fähigkeit habe ich nicht. Damit fällt diese Option für mich weg. Darstellerisch gibt es natürlich andere Möglichkeiten: Wen man spielt, wie man spricht, mit welchem Dialekt. Man kann schlecht schreiben: «… und sagt im Schaffhauser-Dialekt … »
Sie haben mit 30 Jahren erstmals ein Solo-Programm auf der Bühne präsentiert und sich mit dem zweiten, «Der Erreger», eine Klage von Nationalrat Gianfranco Cotti wegen Persönlichkeitsverletzung und eine Schadenersatzforderung von einer Million Franken eingehandelt. Wie riskant ist Satire in der Schweiz?
Ich denke, das war eine einmalige Situation. Bevor der Fichenskandal und die Affäre Kopp aufflogen, herrschte das Gefühl vor, dass wir Schweizer «besser» als die anderen seien – keine Korruption, keine Mafia … Man hatte das Gefühl, einfach gut zu sein. Ende der 1980er-Jahre gab es beim Radio noch drei satirische Tabus: Kirche, Armee und Bundesrat. Eine klare Direktive wie in einem totalitären Staat.
Was brachte die Wende?
Nach dem Fichenskandal, Kopp usw. haben viele Leute gemerkt, dass wir nicht wirklich besser sind als die anderen. Die Tabus wurden aufgeweicht, aber die alten kalten Kämpfer blieben noch eine Weile. In der TV-Sendung «Übrigens» in den 1990er-Jahren haben wir alles gemacht, was zuvor nicht erlaubt war. Aber wenn ein Bundesrat darin vorkam, wurde aus Bern immer noch eine Videokassette von der Sendung bestellt und betrachtet. Das Verhalten war noch dasselbe, aber unternommen wurde nichts mehr.
Und was geschah mit der Klage Cottis?
Der Prozess dauerte fünf Jahre und hat – wenn überhaupt – ihm geschadet, weil nun die Medien auch auf seine Geschäfte aufmerksam wurden und sie ans Licht brachten. Es war ein Lehrstück für andere Politiker. Heute ist so etwas nicht mehr denkbar. Im Ausland werden Politiker wie US-Präsident Donald Trump aufs Schärfste von Satirikern und den Medien angegriffen. In der Schweiz wäre so etwas unvorstellbar.
Woher kommt diese Beisshemmung?
Kein Schweizer Politiker hat eine vergleichbare Machtfülle wie Trump, Macron, Merkel & Co. Diese haben eine autokratische Macht. Unsere Politiker und Politikerinnen können niemals so viel allein entscheiden. Man muss deshalb nicht mit der grossen Axt auf sie einschlagen. Auf der anderen Seite ist dann bei uns für politische Entscheidungen auch niemand persönlich verantwortlich.
Aber beissen könnte man trotzdem.
Wir sind ein kleines Land. Man ist sich näher. Ob Politikerin, Schreiner, Kabarettistin … man lernt sich früher oder später kennen. Und alle sind – wie das Franz Hohler einst gesagt hat – «so nett». Das führt zu einer Beisshemmung. Wir sind als Volk so etwas wie eine Familie. Ich habe mir Mühe gegeben, nicht zu viele Personen aus der Politik persönlich kennenzulernen, denn wenn sie so nett sind, kann ich sie später nicht wirklich in die Pfanne hauen …
„Viele Stammtischwitze sind gnadenloser, als was ich mache.„
Ist Ihnen diese Politikerabstinenz gelungen?
Nicht wirklich. Ich kenne Roger Köppel aus Jugendzeiten, mit Peter Spuhler war ich in der Primarschule … Das heisst nicht, dass ich keine Witze über sie machen kann, aber freundlichere, keine schwarzen zerstörerischen.
Gibt es für Sie Dinge, über die man keine Scherze macht?
Nein, es gibt a priori nichts, worüber man keine Witze macht. Das Lachen über das Tragische, Schlimme, Gfürchige – das hilft uns Menschen. Man muss aber den Einzelfall betrachten. Nicht jeder Witz ist lustig, zum Beispiel wenn wir uns über Verhungernde in Afrika lustig machen. Man agiert aus einer Position der Stärke, schlägt auf Schwächere ein. Oder anders gesagt: Wenn ich selber am Verhungern bin, dann darf ich darüber Witze machen. Wenn ich aber fresse wie Gott in Frankreich, dann kann ich mich nicht lustig machen über Verhungernde. Viele Stammtischwitze sind schlussendlich viel gnadenloser, als was ich auf der Bühne mache.
Darf man über Corona lachen?
Natürlich. Corona ängstigt uns alle. Wir alle stehen unter Druck und vor einer Ungewissheit. Die Leute reagieren darauf mit einer Explosion von Witzen, die über soziale Medien kursieren. Ich erhalte locker 20 Stück pro Tag. Es ist ein intellektuelles Spiel, das entlastet. Man kann so vielleicht Distanz und Erkenntnis gewinnen.
Die Pandemie wirft alles und insbesondere die Arbeit der Kulturschaffenden über den Haufen. Sie arbeiten gerade an einem neuen Programm …
Zwei Drittel habe ich bereits geschrieben, bevor diese Corona-Abbruchbirne in unser gesellschaftliches Haus donnerte. Jetzt hocken wir alle zu Hause und fragen uns, wie geht’s weiter? Es wird ein vor und nach der Corona-Pandemie geben. Es kann sein, dass das, was ich vor Corona geschrieben habe, überholt wirkt, aber vielleicht sehnen sich die Leute auch gerade danach. Ich weiss es nicht. Im Moment blockiert mich die Situation. Ich schaffe es nicht, etwas Aktuelles über Corona zu schreiben.
Wie erklären Sie sich das?
Ich habe noch zu wenig Distanz dazu. Es gibt eine bekannte Gleichung: Komödie ist Tragödie plus Zeit. Ich kann aktuell nichts schreiben, weil ich nicht weiss, wie die Lage in ein paar Monaten aussieht. Zurzeit kursieren wilde Verschwörungstheorien, dass alles nicht so schlimm sei, dass Grosskonzerne bloss Gewinn machen wollen etc. Ich glaube nicht daran. Das würde ein unrealistisches Mass an Planung voraussetzen.
Aber an einer guten Konspirationstheorie ist doch immer etwas Wahres dran …
Dort wird es tatsächlich interessant. Etwa bei der Weltgesundheitsorganisation WHO. Wer ist die WHO? Früher war sie als Teil der UNO eine internationale Organisation, ursprünglich von allen Staaten der Welt finanziert. Doch diese haben in den letzten Dekaden die Unterstützung heruntergefahren.
Und jetzt?
Heute wird die WHO zu drei Viertel von Stiftungen finanziert, die von der Privatindustrie gefüttert werden. Verkürzt könnte man sagen: Die WHO ist finanziert von den Pharmakonzernen. Sie ist nicht mehr die unabhängige Organisation, die sie einst war.
Wie entsteht ein Bühnenprogramm? Schreiben Sie sich laufend Dinge auf, die Ihnen im Alltag und in den Nachrichten begegnen?
Diese Information zum Beispiel, wie die WHO aufgebaut ist, stammt ursprünglich aus einem Youtube-Verschwörungsvideo. Das weckte mein Interesse, und ich begann zu recherchieren. Dabei habe ich erfahren, dass das Gesundheitswesen allgemein in einem schlechten Zustand ist, weil es in jüngerer Zeit nach liberal-wirtschaftlichen Kriterien organisiert wurde und nicht wirklich nach den Bedürfnissen der Menschen.
Sie arbeiten alleine. Setzen Sie sich damit nicht enorm unter Druck?
Ich hatte auch schon Hilfe bei aufwändigeren Recherchen, aber zu 95 Prozent arbeite ich alleine. Das ist nicht Stress. Es ist mein Job, und der macht Spass.
Ihr nächstes Programm heisst «Wobisch?!» Wie darf man den Titel verstehen? Geografisch, kulturell, beruflich …?
Es geht um Gesellschaftliches. Unsere Mobilität und unsere Kommunikation haben sich völlig verändert. Die Frage «Wo bisch?» wird täglich in fast jedem Telefongespräch gebraucht. Früher war man ja nur zu Hause am Telefon. Diese Veränderung führt zu verschiedenen anderen Dingen bis zur Frage «Wer bisch?». Wir alle wollen lieber anderswo sein, als wir gerade sind. Wir möchten auch jemand anders sein, als wir sind. Wir widmen uns alle der Selbstoptimierung. Besser sein, veganer sein, schöner, jünger …
„Ein Programm ist fast wie ein Lebewesen, das einen begleitet.„
Sie gehen mit Ihrem Programm im Herbst auf Tournee. Verändert sich der Inhalt im Lauf der darauffolgenden Monate?
Früher spielte ich während zwei Saisons das gleiche Programm. «Wobisch?!» werde ich nur während einer Saison, von September 2020 bis Ende Mai 2021, spielen. In dieser Zeit verändert es sich bestimmt. Ein Programm ist fast wie ein Lebewesen, das einen begleitet. Es antwortet auf das, was um uns herum geschieht.
Ist es nicht langweilig, immer dasselbe auf der Bühne zu erzählen?
Jeder macht doch in seinem Beruf immer das Gleiche. Ob Pilot, Schreiner, Journalistin – Veränderungen sind nur im Kleinen da, aber das macht es spannend. Anderes Publikum, anderes Lokal, andere Reaktionen. Unser Leben ist repetitiv. Das ist nicht langweilig, sondern cool. Je besser man wird, desto mehr Spass macht es.
Gibt es auf der Bühne Raum für Improvisation?
Wenig. Es gibt Stellen, die sich anbieten. Je nach Gefühl am Abend lasse ich Improvisation zu. Doch das Programm folgt einem fixen Gerüst, schliesslich muss ich am Schluss beim Punkt Z ankommen.Wie wissen Sie, ob ein Witz beim Publikum ankommen wird?
Gibt es ein Test-Publikum?
Nein. Ich mache mit dem ganzen Programm Vorschauen an fünf bis zehn Orten. Vom Ablauf her kann ich spüren: Ist ein Thema zu lange? Funktionieren die Übergänge? Ich weiss aber schon vorher, was lustig ist, was nicht. Grundsätzlich gilt: Was ich lustig finde, finden andere auch lustig.
Worüber lachen Sie? Haben Sie Vorbilder?
Ich liebe die Engländer. Meine Idole sind Eddie Izzard und Bill Bailey. Sie sind darstellerisch der Hammer. Izzard beschäftigt sich gerne mit Geschichte. Bailey ist ein toller Musiker und mischt mit seiner musikalischen Comedy auch mal Heavy-Metal-Festivals auf. Sie sind über 60.
Was bedeutet altern für Sie?
Es nervt. Ich spüre es zum Glück noch nicht physisch, absolviere aber beispielsweise nur noch eine Saison, nicht mehr zwei wie früher. Im Kopf bin ich immer noch 23, doch mein Selbstbild korrespondiert je länger, je weniger mit dem, was ich im Spiegel sehe. Ich weiss, dass nun das letzte Drittel angefangen hat, und das bereitet mir schon ein wenig Mühe. Ich würde gerne 180 Jahre alt werden.
Haben Sie sich einen Zeithorizont gegeben? Das mache ich noch x Jahre, dann höre ich auf.
Das sage ich nicht. Denn es kommt sowieso immer alles anders, als man plant. ❋
❱ Lorenz Keisers neues Programm mit dem Titel «Wobisch?!» läuft ab 10. September im Theater am Hechtplatz in Zürich. Karten bestellen unter theaterhechtplatz.ch.
Der Gesellschaftskritiker
Lorenz Keiser wurde 1959 als Sohn des Schweizer Kabarettisten-Duos Margrit Läubli und César Keiser und älterer Bruder von Matthis Keiser in Zürich geboren. Zu Beginn der 80er-Jahre arbeitete er als Primarlehrer und begann 1984 Kolumnen und Kurzgeschichten für verschiedene deutschsprachige Zeitungen und Magazine zu schreiben. Bis 1988 arbeitete er auch als Redaktor für Radio DRS. 1989 trat er mit dem Programm «Zug verpasst» erstmals als Solokünstler auf. Für sein viertes Stück «Schär Holder & Meierhofer» erhielt er den Schweizer Cabaret-Preis Cornichon. 2010 war Lorenz Keiser erstmals für die Komödie «Länger Leben» als Filmregisseur tätig. Er ist Vater eines Sohnes und einer Tochter und lebt in Zürich.
Mehr zu Lorenz Keiser, seinen Programmen und viele Videos unter lorenzkeiser.ch