26 Prozent der über 75-Jährigen trinken täglich Alkohol. Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden, doch oft wird der Genuss zur Sucht. Was aber tun, wenn man nicht mehr Mass halten kann? Die Antwort ist einfach: sich Hilfe holen. Dafür ist es nie zu spät.
Text: Roland Grüter
Die Sucht kam langsam und leise. Alois G. hatte Probleme mit seiner Frau. Seine Arbeit, die er seit Jahrzehnten verrichtete, ödete ihn an. Freunde und Hobbys hatte er keine. Also setzte er sich nach Feierabend jeweils an den Küchentisch. Die einzige Gesellschaft, die ihm Freude machte, war das Glas, das vor ihm stand. Anfangs füllte er dieses nur zaghaft mit Kafi Schnaps, irgendwann schenkte er ein zweites, dann ein drittes, viertes, fünftes Mal nach. Seine Familie schaute ihm dabei zu. Sie schwiegen sich über die vielen leeren Schnapsflaschen aus, die sie wegtrugen – so wie über alle Probleme, die auf der Familie lasteten. Nach der Pensionierung hatte Alois G. mehr Zeit. Nun setzte er sich bereits morgens an den Küchentisch. Er starrte den ganzen Tag zum Fenster hinaus, trank, rauchte – und schwieg.
5,1 Prozent sind gefährdet
Wo hört Genusstrinken auf, wo fängt Sucht an? Diese Fragen stellen sich auch bei Menschen, die kein offensichtliches Alkoholproblem haben. Die Weltgesundheitsbehörde (WHO) hat entsprechende Grenzwerte definiert: Chronischer risikoreicher Konsum fängt bei Männern ab 40 Gramm reinen Alkohol pro Tag an – bei Frauen bei durchschnittlich 20 Gramm. Das entspricht vier respektive zwei Gläsern Wein. Da der Körper im Alter stärker auf Alkohol reagiert, liegen die Grenzwerte für ältere Menschen sogar darunter. Erhebungen aus dem Suchtmonitoring Schweiz zeigen, dass etwa 5,1 Prozent der Männer und Frauen im Alter von 65 bis 74 Jahren einen chronisch-risikoreichen Alkoholkonsum aufweisen.
Bei 55- bis 64-Jährigen ist der Anteil sogar noch höher. «Diese Menschen leben im Sandwich der Generationen und sind von vielen Seiten unter Druck», sagt Psychologin Marie-Luise Hermann, die in der Clienia Privatklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Littenheid TG auf einer Privatstation arbeitet und Menschen nach dem Entzug psychotherapeutisch begleitet: «Einerseits müssen sie sich noch im Arbeitsmarkt behaupten, sich um die Ablösung erwachsener Kinder und die Begleitung der alten Eltern kümmern und sich andererseits auf einen neuen Lebensabschnitt ausrichten.» Mit Alkohol können manche allfällige Probleme besser aushalten. Er stimuliert sie kurz positiv, dämpft oder mindert Belastungen. «Doch leider beginnt schnell die Abwärtsspirale zu drehen», sagt die Expertin, «was den Menschen vermeintlich guttut, wird schleichend zum Bumerang, zur Sucht. Doppelt blöde: Viele nehmen gleichzeitig Medikamente ein – und riskieren damit Wechselwirkungen.
In der Küche, in der Alois G. Tag für Tag Platz nahm, roch es stark nach Rauch und Alkohol. Die pubertierenden Kinder fingen an zu maulen, stritten sich mit dem Vater. Die Probleme der Familie wuchsen, niemand versuchte, das Elend am Küchentisch zu beenden. Seine Frau und die drei Kinder hatten ihn längst aufgegeben. Sie machten um Alois G. möglichst einen Bogen, nur so hielten sie die Misere aus.
Gefühle besser aushalten
Es gibt viele Gründe, die zur Alkoholsucht führen. Bei älteren Menschen stehen oft Verlusterlebnisse, Einsamkeit, schwere körperliche Erkrankungen oder frühere traumatische Erlebnisse am Anfang der Sucht. «Alkohol ist eine Art Selbstmedikation. Er soll helfen, Einsamkeit und andere Gefühle besser auszuhalten», sagt Marie-Luise Hermann. «In der Therapie ergründet man, welche Faktoren zur Entgleisung führten. Nur so kann man einen anderen Umgang damit finden.» «Es ist nie zu spät, sich Hilfe zu holen und die Sucht anzugehen», sagt die Expertin. «Fachstellen und allen voran die Hausärztin oder der Hausarzt sind bewährte Anlaufstellen.» Ist der Alkoholkonsum stark entgleist, biete sich ein Entzug mit anschliessender Psychotherapie an, etwa in den Kliniken der Clienia-Gruppe. Dieser dauert sechs bis sieben Wochen, danach begleiten ambulante Psychotherapeuten die Menschen in den Alltag. Der Weg in die Abstinenz oder zum reduzierten und vor allem kontrollierten Alkoholkonsum ist lang. «Ziel aller Therapien ist es, wieder Herr über die Sucht zu werden – Zusammenhänge zu erkennen, damit man in Krisenzeiten nicht gleich wieder zu Alkohol greift», sagt Marie-Luise Hermann.
Diese Gelegenheit hatte Alois G. verpasst. Er trank jahrelang weiter. Irgendwann rebellierte sein Körper. Der Gang zum Hausarzt war unumgänglich – erst jetzt konnte dieser die längst überfälligen Schritte einleiten. Sein Leben, das er auf dem Stuhl vor dem Küchenfenster gelebt hatte, war nun zu Ende.
Gut zu wissen
Hier finden Sie Hilfe und Infos, wenn Sie selber, ein Familienmitglied oder eine Freundin, ein Freund alkoholabhängig sind: alterundsucht.ch, anonyme-alkoholiker.ch, clienia.ch (bieten stationäre und ambulante Therapien an). Unterstützung gibts auch bei den Suchtpräventionsstellen in Ihrem Kanton oder bei der Hausärztin/dem Hausarzt.
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