«Es braucht tragbare Netzwerke»
Jürgen Stremlow, Forscher und Dozent an der Hochschule Luzern, zeigt Wirkung und Möglichkeiten einer umfassenden Alterspolitik. Diese geht über die finanzielle Absicherung und medizinische Versorgung der älteren Menschen hinaus.
Text: Usch Vollenwyder
Für die konkrete Alterspolitik sind in der Schweiz die Kantone, vor allem aber die Städte und Gemeinden zuständig. Was zeichnet eine gute Alterspolitik aus?
Sie orientiert sich an den Bedürfnissen der älteren Menschen und umfasst alle ihre Lebensbereiche. Neben der finanziellen Absicherung und der medizinischen Betreuung sorgt eine gute Alterspolitik mit einer Reihe von Massnahmen dafür, dass heutige Seniorinnen und Senioren möglichst lange in den eigenen vier Wänden wohnen und in der Gesellschaft integriert bleiben können – so wie es allen Umfragen gemäss ihrem Wunsch entspricht.
Sie haben den Stand der Alterspolitik in verschiedenen Schweizer Städten und Gemeinden untersucht. Was hat Sie dabei überrascht?
Zum einen die grossen Unterschiede zwischen den einzelnen Gemeinden, die letztlich für die Umsetzung und Ausgestaltung der Alterspolitik zuständig sind. Zum anderen die Tatsache, dass überall dort, wo sich auf alterspolitischer Ebene etwas bewegt, kompetente und initiative Persönlichkeiten stehen, die sich mit Herzblut für ihr Thema einsetzen.
Worin zeigen sich die grossen Unterschiede zwischen den Gemeinden?
Da gibt es einerseits Städte und Kommunen, die ausschliesslich den Kernaufgaben nachkommen: Sie sorgen für die nötige ambulante und stationäre Betreuung und Pflege für ihre ältere Bevölkerung. Am anderen Ende der Skala sind Gemeinden, die eine umfassende Alterspolitik betreiben und mit ihren Angeboten nah bei den Betroffenen – quasi vor deren Haustür – sind. Dazu gehören ärztliche Versorgung und pflegerische Betreuung, Dienstleistungen wie Podologie oder Mittagstisch, Zugang zum öffentlichen Verkehr, zu Treffpunkten oder Einkaufsmöglichkeiten. «Activities of daily living» nennen Fachleute diese verschiedenen Facetten, die zum Alltag von älteren Menschen gehören.N
Nehmen alle Betroffenen diese Angebote in Anspruch?
Aus Studien weiss man, dass etwa zehn bis zwanzig Prozent der älteren Menschen für öffentliche Angebote kaum zugänglich sind. Auf diese Menschen muss man zugehen. So gibt es gelungene Projekte mit sogenannten Siedlungs- und Wohnungsassistenten: Diese sind zuständig für die Menschen in einem Quartier, einer Siedlung oder in einem Wohnhaus. Mir gefällt der deutsche Begriff «Kümmerer»: «Kümmernde» sind einfach da und kennen die Betroffenen schon, wenn diese noch keine Hilfe und Unterstützung brauchen. Wenn es dann so weit ist, ist der Boden für eine weiterführende Begleitung bereits geebnet. Es gehört zu meinem Verständnis von soziokultureller Animation oder sozialer Arbeit, dass man Menschen nicht nur berät, sondern auch aktiv auf sie zugeht.
Welches sind die Rahmenbedingungen, damit Alterspolitik gelingt?
Wichtig ist es, dass es in jeder Stadt oder Gemeinde eine Stelle gibt, die für Alterspolitik zuständig ist und die entsprechenden Themen ressortübergreifend angeht. Denn Alterspolitik tangiert sehr schnell andere Bereiche – den öffentlichen Verkehr, das Hoch- und Tiefbauamt, Generationenbeziehungen, Gesundheit … Gleichzeitig braucht es eine Planungs- und Koordinationsstelle, bei der alle relevanten Angebote und Informationen abgeholt werden können.
Braucht es eine spezielle Alterspolitik?
Davon bin ich überzeugt. Alter ist ein Thema, das auf eine immer grösser werdende Zielgruppe mit eigenen Bedürfnissen und Wünschen fokussiert. Aber natürlich gibt es wichtige Schnittstellen zum Beispiel zur Familienpolitik, zur Kinder- und Jugendförderung oder bei Generationenthemen. Im konkreten Zusammenleben beziehen sich diese verschiedenen Politikfelder aufeinander und hängen zusammen. Ein solcher ganzheitlicher Ansatz würde den Blickwinkel verändern und erweitern – eine schöne Zukunftsperspektive!
Wie weit werden die Betroffenen zum Mitreden und Mitgestalten einer guten Alterspolitik einbezogen?
Ohne sie geht gar nichts – das ist auch in anderen Bereichen so. Es braucht den verbindlichen Einbezug der Betroffenen – sei das auf institutioneller Ebene oder praktisch vor Ort. In der Schweiz sind wir mit den Alterskommissionen, den verschiedenen Gremien und Foren auf der institutionellen Seite gut ausgerüstet. Es braucht aber auch Rundgänge, Beratung und Animation in Siedlungen und Quartieren, um lebensnahe und lebensbezogene Alterspolitik zu betreiben.
Wer soll das alles bezahlen?
Ich bin der festen Überzeugung, dass der Staat in Zukunft nicht mehr alles alleine leisten kann. Es braucht tragfähige Netzwerke, die der älteren Bevölkerung eine gute Lebensqualität bis ins hohe Alter sichern. Dazu gehören neben Bund, Kantonen und Gemeinden auch andere Akteure – Partnerorganisationen und Nonprofitorganisationen zum Beispiel, aber auch private und staatliche Dienstleistungsanbieter sowie private Engagements wie Nachbarschaftshilfe und familieninterne Unterstützung.
Also sind in hohem Mass auch die betreuenden Angehörigen gefragt?
Die in der Alterspolitik führenden Städte und Gemeinden haben die Bedeutung dieses privaten Hilfsumfelds, das sich schon immer um ältere Menschen gekümmert hat und sich in Zukunft noch vermehrt um sie wird kümmern müssen, erkannt und wollen es gezielt unterstützen und fördern. Denn: Angehörige erbringen Betreuungsleistungen in Milliardenhöhe. Ihnen gilt es besondere Sorge zu tragen. ❋
Mit ihren vielfältigen Kurs- und Dienstleistungsangeboten trägt auch Pro Senectute dazu bei, dass ältere Menschen möglichst lange zu Hause wohnen bleiben können. Die Adresse Ihrer Pro-Senectute-Stelle finden Sie vorne in jeder Ausgabe der Zeitlupe.
Jürgen Stremlow, Prof. Dr., ist Dozent und Projektleiter an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit, wo er das Institut für Sozialmanagement, Sozialpolitik und Prävention leitet. Seit 2012 amtet er als Leiter Forschung und Entwicklung und veröffentlichte vor kurzem als Mitherausgeber die Publikation «Gestaltung kommunaler Alterspolitik in der Schweiz» (interact Verlag Luzern, 168 S., ca. CHF 41.90).
Adresse: Hochschule Luzern, Soziale Arbeit, Werftestrasse 1,
Postfach 2945, 6002 Luzern, Mail juergen.stremlow@hslu.ch, Telefon 041 367 48 41.
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