Als unbequemer Genfer Politiker sass er während dreier Jahrzehnte im Nationalrat; acht Jahre war er als Uno-Sonderberichterstatter unterwegs. In seinem neuen Buch «Die Schande Europas» erzählt der ehemalige Soziologieprofessor Jean Ziegler von seinem Besuch im griechischen Flüchtlingslager Moria.
Text: Usch Vollenwyder
Jeder Tag ist ein Wunder», sagt Jean Ziegler. Wenn er am Morgen zum Fenster hinausschaue und auf der gegenüberliegenden Rhoneseite den Mont Blanc sehe, wenn er tagsüber an seinen Reden und Texten arbeite, spüre er: «Ich bin am Leben. Mir geht es gut.» Nicht aus eigenem Verdienst; nur der Zufall der Geburt verschaffe ihm solche Privilegien. Dieses Bewusstsein ist die Triebfeder, die Jean Ziegler auch mit 85 Jahren immer noch antreibt, gegen Ungerechtigkeit und Elend zu kämpfen: «Ich könnte mich sonst nicht mehr im Spiegel anschauen.»
Im Mai 2019 besuchte Jean Ziegler in seiner Funktion als Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des UN-Menschenrechtsrats das Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos. Seine Erschütterung ist auch ein Jahr später – und wegen Corona am Telefon – noch zu spüren: «Menschen wie Sie und ich, wie unsere Kinder und Enkel, werden wie Tiere zusammengepfercht hinter Stacheldraht gehalten.» Inzwischen seien es 24 000. Jean Ziegler erzählt von unterernährten Kindern, vergewaltigten Frauen, stinkenden Toiletten, der grassierenden Krätze und von Schlangen und Ratten in Abfallbergen.
Acht Jahre, von 2000 bis 2008, war Jean Ziegler UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. In dieser Funktion war er in vielen Krisengebieten unterwegs und hat dabei Entsetzliches erlebt. Doch noch nie sei er von einer Mission so erschüttert zurückgekommen wie von Moria. Jean Zieglers neustes Buch «Die Schande Europas» schildert das Leben im grössten Flüchtlingslager auf europäischem Boden, es zeigt Zusammenhänge auf und dokumentiert Hintergründe. Nüchtern zieht er den Schluss: «Mit ihrer Flüchtlingspolitik zerstört die EU ihr moralisches Fundament und liquidiert das völkerrechtlich garantierte Asylrecht.»
Jean Ziegler kam am 19. April 1934 in Thun zur Welt, er studierte Recht und Soziologie und lehrte schliesslich Soziologie in Genf und an der Sorbonne. Ein zweijähriger Afrikaaufenthalt kurz nach der Ermordung des kongolesischen Regierungschefs Patrice Lumumba 1961 habe ihn geprägt und für die Not der Schwächsten sensibilisiert. Mit einem Unterbruch von vier Jahren politisierte Jean Ziegler von 1967 bis 1999 als Genfer Sozialdemokrat im Nationalrat, wo er als Kapitalismusgegner und Globalisierungskritiker polarisierte.
Einfach kämpfen. Punkt.
Bis heute kämpft und debattiert er mit Leidenschaft und scheut vor keinen Konflikten und Widersprüchen zurück.Schonungslos schaut Jean Ziegler auch auf seine Karriere zurück. Sein Engagement im Nationalrat? Das habe gar nichts genützt. Als «total ineffizient» beurteilt er auch seinen Einsatz als UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung: «Als ich begann, starb weltweit alle fünf Sekunden ein Kind unter zehn Jahren an Hunger. Als ich acht Jahre später aufhörte, war es immer noch so.» Doch nach dem Nutzen eines Engagements dürfe man ohnehin nicht fragen: «Man muss einfach kämpfen. Punkt.» Jean Ziegler zitiert ein afrikanisches Sprichwort: «Man kennt die Früchte der Bäume nicht, die man sät.»
Die Hoffnung, dass sein Engagement irgendwann Früchte trägt, gibt Jean Ziegler nicht auf. Die Hoffnung sei ja auch das Einzige, das uns bleibe … Er setzt auf den «Aufstand des Gewissens» von Menschen, die sich bewegen lassen von den Missständen und Ungerechtigkeiten auf der Welt. Er glaubt daran, dass diese bei den Entscheidungsträgern eine andere Politik durchsetzen können: «In einer Demokratie gibt es keine Ohnmacht.»
Deshalb schreibt er Bücher und hält flammende Reden. Mit seinen Möglichkeiten kämpft er gegen Unwissenheit und für Transparenz: «Entweder wir ändern diese Welt, oder sonst tut es niemand.» Wir – damit meint Jean Ziegler uns alle. Immerhin habe die Schweiz die EU mit einem Solidaritätsbeitrag von weit über einer Milliarde Franken unterstützt. Deshalb seien wir mitverantwortlich für das, was auch in unserem Namen an Europas südlicher Aussengrenze passiere.
Auf die letzte Frage, ob sein Engagement letztlich doch von einem religiösen Hintergrund geprägt sei, antwortet Jean Ziegler mit dem französischen Schriftsteller Victor Hugo: «Ich hasse alle Kirchen. Ich liebe die Menschen. Ich glaube an Gott.» ❋
Jean Ziegler: «Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten», C. Bertelsmann Verlag, München 2020, 143 S., CHF 23.90
Das Thema interessiert Sie?
Werden Sie Abonnent/in der Zeitlupe.
Neben den Print-Ausgaben der Zeitlupe erhalten Sie Zugang zu sämtlichen Online-Inhalten von zeitlupe.ch, können sich alle Magazin-Artikel mit Hördateien vorlesen lassen und erhalten Zugang zur Online-Community «Treffpunkt».
Um diese Website optimal bereitzustellen, verwenden wir Cookies.
Mit der Nutzung dieser Website stimmen Sie der Verwendung von Cookies zu. Erfahren Sie mehr in der
Datenschutzerklärung.