© Gukhwa Jang/ unsplash

Venezianisches Tagebuch

Vier Monate lang lebte die Zürcher Journalistin und Buchautorin Klara Obermüller (80) in Venedig. In ihrem neuen Buch «Die Glocken von San Pantalon» verbindet sie ihre Erinnerungen mit Gedanken über das Älterwerden.

Text: Usch Vollenwyder

Am 10. Dezember 2017 kam Klara Obermüller in Venedig an. Es schneite feine Flocken, als sie den Bahnhof Santa Lucia verliess und am Canal Grande stand. Bis zum Palazzo Castelforte im Stadtteil San Polo dauerte es zu Fuss nur gerade eine Viertelstunde. Die Journalistin, Buchautorin und ehemalige Sternstunde-Moderatorin beim Schweizer Fernsehen stieg die 54 steilen Marmortreppen hoch zu ihrer grossen Wohnung mit Terrazzo-Boden und einer hohen, dunklen Balkendecke. Bis in den Frühling hinein würde sie hier zu Hause sein. Klara Obermüller kochte sich eine Fertigsuppe und schenkte sich ein Glas Rotwein ein.

«Ich versuchte mir vorzustellen, wie ich hier in den kommenden Wochen und Monaten leben würde. Vor den Fenstern war es dunkel geworden, der Winterhimmel verhangen, die Dächer nass, die Fernsehantennen schwankten im Wind» schreibt sie in ihrem venezianischen Tagebuch. «Was ein wenig aussah wie ein Minarett, war der Turm der Chiesa di San Pantalon. Tagsüber, so stellte sich später heraus, wirkt er grau, aber abends, wenn bei gutem Wetter das Licht auf ihn fällt, schimmert er rosa. Sein Geläut erklingt zuverlässig morgens um acht und abends um sechs. Es sollte mich begleiten, vier Monate lang.»

«Die Glocken von San Pantalon» heisst denn auch das neue Buch von Klara Obermüller, das aus ihren venezianischen Notizen entstanden ist. Darin nimmt sie ihre Leserinnen und Leser mit auf Streifzüge durch die Lagunenstadt, die sie zusammen mit ihrem Mann in diesen vier Monaten immer besser kennenlernt: in Kirchen und Museen, über Brücken und Plätze, durch Gassen und Gässchen, in Caffès und Ristoranti. Sie schildert, wie Bilder sie berühren, Begegnungen sie bereichern, Gedanken sich klären. Das Paar erkundet ein Venedig abseits der Touristenströme; farbige Fotos im Buch zeugen von seinen Rundgängen.

Zu diesem besonderen Venedig-Aufenthalt war Klara Obermüller von der Forberg-Stiftung eingeladen worden. Die Kulturstiftung mit Sitz in Bern unterhält neben anderen Tätigkeiten die Atelierwohnung im Palazzo Castelforte in Venedig und stellt sie Kulturschaffenden aus allen Sparten zur Verfügung – als Anerkennung und Zeichen der Wertschätzung für ihr Schaffen. Für Klara Obermüller war die Einladung ein unerwartetes Geschenk zur richtigen Zeit: Sie betrachtete es als «eine zweite Chance, Abschied zu nehmen und loszulassen: eine Art zweite Pensionierung.»

Die erste lag schon fast zwanzig Jahre zurück – 2002 hatte sich die Zürcherin vorzeitig pensionieren lassen – doch weiterhin hatte sie neue Aufgaben angenommen. Sie mochte Betriebsamkeit, sie freute sich, wenn sie gefragt und anerkannt blieb. So hatte sie geschrieben, an Podiumsveranstaltungen teilgenommen, Anlässe moderiert. 2017 war ihr wohl persönlichstes Buch «Spurensuche» erschienen, in dem sie ihren Wurzeln als Adoptivtochter nachgeht und zu verstehen versucht, wie sie zu der Frau geworden ist, die sie heute ist.

Ohne Pläne reiste Klara Obermüller in die Lagunenstadt. Sie nahm sich vor, sich nichts vorzunehmen – ausser Tagebuchschreiben. Erst zu Hause realisierte sie, dass sich genug neuer und wichtiger Stoff für ein nächstes Buch angesammelt hatte. In «Die Glocken von San Pantalon» verbindet sie ihre Erinnerungen und Impressionen aus Venedig mit Gedanken rund ums Älterwerden und Alter, um Abschied und Tod. Die Stadt, die langsam im Meer versinkt, bot sich an als Sinnbild für die Vergänglichkeit – Klara Obermüller begegnete ihr auf Schritt und Tritt.

Sie sei freier, gelassener und ruhiger geworden, schreibt sie im letzten Kapitel, das den Titel «Ein neuer Anfang» trägt. Natürlich gebe es Rückfälle; dann möchte sie ausbrechen aus dem Alltagstrott, noch einmal durchstarten, sich noch einmal neu erfinden. Doch diese Phasen würden immer kürzer und dann spüre sie etwas von der Unbeschwertheit zurückkehren, die sie sich in Venedig zugelegt habe. Das Buch endet mit einem versöhnlichen Ausblick: «Ich bin am Ende von etwas angelangt und bin offen für das, was kommt. Ich fühle mich frei wie noch nie: frei für den letzten Abschnitt meines Lebens. Ich werde im April 2020 80 Jahre alt. Wer weiss, wie viel Zeit mir noch bleibt».

Cover: Venezianisches Tagebuch

Klara Obermüller: «Die Glocken von San Pantalon. Ein venezianisches Tagebuch. Xanthippe Verlag, Zürich 2020, 164 S., ca. CHF 35.80






© Pro Senectute

Video-Gespräch mit Klara Obermüller

Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder unterhält sich im Video-Gespräch mit Journalistin, Buchautorin und Referentin Klara Obermüller über ihr «Venezianisches Tagebuch».

«Es war auch eine Konfrontation mit mir selbst»

Beitrag vom 23.06.2020
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