Zivilcourage 6. Juli 2020
Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder ist 69 Jahre alt. Als Angehörige der Risikogruppe erzählt sie jede Woche aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von der schwierigen Frage nach dem eigenen Mut.
Wie ein Mantra habe ich es vor mich hergebetet: Dass ich in aller Trauer doch froh bin, ist unser Papa noch vor Corona gestorben. Wie dankbar ich sein kann, dass ihm und uns eine mehrwöchige Trennung erspart geblieben ist. Nie habe ich mich gefragt: «Und was, wenn es anders gewesen wäre?» Der Gedanke, dass er die letzten Wochen und Tage seines Lebens allein in seiner Alterswohnung verbracht hätte, ist unerträglich. Und so möchte ich gerne glauben, dass ich mich mutig über das sofort angeordnete Besuchsverbot hinweggesetzt hätte.
Für die Zeitlupe stand ein Interview mit Settimio Monteverde auf dem Plan – Medizinethiker, Pflegefachmann, Dozent und vor allem: Sohn einer demenzkranken Mutter in einem Pflegeheim. Durch das Besuchsverbot war er wie alle Angehörigen von einem Tag auf den anderen abgeschnitten von seiner Mutter – und sie von ihm. Nach diesen bitteren Erfahrungen veröffentlichte er zusammen mit weiteren Fachleuten einen Appell an die Verantwortungsträgerinnen und -träger aus Politik und Pflege: Der Schutz des Lebens müsse mit dem Schutz der Persönlichkeit und der Lebensqualität einhergehen; enge Angehörige, Beistände und gesetzliche Vertretungspersonen sollten, unter Beachtung der Schutzmassnahmen, selbstverständlich Zugang zu den ihnen vertrauten und anvertrauten Menschen haben.
Als meine Tante während der Corona-Zeit in einem Altersheim starb, meinte meine Kusine: «In diesem Heim sterben die Menschen an Einsamkeit.» Eine Nachbarin, Aktivierungstherapeutin in einem Pflegezentrum, erzählte von verzweifelten Angehörigen vor verschlossenen Türen. Der zunehmende körperliche und geistige Abbau von Bewohnenden sei täglich zu beobachten gewesen, meint ein befreundeter Altersheimleiter. «So etwas darf nie mehr passieren», sagt Settimio Monteverde im Zeitlupe-Gespräch. Als Angehöriger sei man ausgeliefert gewesen. Da hätte es vielleicht mehr Zivilcourage gebraucht …
Ich bearbeite das Interview und stelle mir die unbequeme Frage nach meiner eigenen Zivilcourage: Hätte ich die Anordnungen akzeptiert? Wie lange? Hätte ich Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um das Besuchsverbot zu umgehen? Hätte ich gekämpft? Wäre ich dank des Zweitschlüssels zumindest heimlich durch die Hintertür in Papas Alterswohnung geschlichen? Ich wünsche mir, ich könnte von mir behaupten, dass ich selbstverständlich den nötigen Mut gehabt hätte. Aber ich weiss es nicht.
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