Covermotiv: Gemälde von Elizabeth Lennie © Elizabeth Lennie

Wir holen alles nach, Kapitel 9 Von Martina Borger

Sie bemerkt es am Montag. Als Sina ihn am Morgen zu ihr bringt, fällt Ellen gleich auf, dass Elvis blass ist, seine Wangen aber gerötet und die Augen unnatürlich glänzend.

«Ihm war vorhin ein bisschen übel», sagt Sina.
«Kann sein, er hat gestern was Falsches gegessen. Oder zu viel getobt. Er war bei seinem Freund, mit noch anderen Kindern, die haben sicher Halligalli gemacht. Rufen Sie mich an, wenn es schlimmer wird.»

Ellen packt Elvis erst mal mit seinem Comic aufs Sofa und kocht ihm einen Kamillentee. Der Hund legt sich neben ihn. Während Ellen durch die Wohnung geht, ein bisschen die Überbleibsel von Miris Besuch aufräumt und dabei entdeckt, dass Miri ihr Handyladekabel vergessen hat, liegt er still da, das Heft aufgeschlagen vor sich, aber er blättert nicht ein einziges Mal um.

Als sie ihn zwei Stunden später fragt, wie es ihm geht, sagt er, gut. Also gehen sie mit dem Hund auf einen Spaziergang durchs Viertel. Elvis hält zwar wie immer die Leine, ist aber still und in sich gekehrt. Auf ihre Frage, wie sein Wochenende war, sagt er wieder, gut.

Sie erzählt ihm von dem Film, den sie am Samstagabend mit Miri gesehen und über den sie sich beide geärgert haben, und dass eine neue Eisdiele drei Strassen weiter eröffnet hat. Wenn er kein Bauchweh mehr hat, geht sie mit ihm dahin und er darf sich drei Kugeln aussuchen. Er nickt, fragt aber nicht wie sonst nach.

Zu Hause schlägt sie vor, dass sie vor dem Essen etwas spielen, sie hat eine ganze Schublade voller Brett- und Kartenspiele. Mit Benedikt und Vitus hatte sie ein Ritual, jeden Sonntagnachmittag wurde gespielt, und der Gesamtsieger musste den Tisch fürs Abendbrot decken. Elvis aber mag nicht, er ist müde, sagt er. Sie will ihm Kartoffelbrei machen, den müsste er eigentlich vertragen, aber er möchte auch das nicht, er hat immer noch Bauchweh. Also packt sie ihn wieder aufs Sofa, wo er gleich einschläft. Sie macht sich ein Sandwich, setzt sich in den Ohrensessel, liest ein paar Seiten in dem Buch, das Miri ihr unter anderem mitgebracht hat, und nickt ein.

Sie wacht davon auf, dass Elvis weint. Er sitzt auf dem Sofa, sein T-Shirt ist über der Brust gelbbraun befleckt. Er hat sich im Schlaf übergeben, er ist davon aufgewacht, wie er zwischen zwei tiefen Schluchzern hervorstösst. Ein bisschen was ist auch auf einem Sofapolster gelandet und auf dem Kissen aus indischem Baumwollstoff.

Ellen versucht, ihn zu trösten. Das T-Shirt kann sie waschen, das Sofapolster und das Kissen auch, es ist wirklich überhaupt nicht schlimm. Aber Elvis lässt sich nicht so schnell beruhigen, er weint lange. Er wirkt verstört, als sei er noch in einem furcht- erregenden Traum gefangen. Nur mit Mühe kann Ellen ihn dazu bewegen, vom Sofa aufzustehen.
«Weisst du was?», sagt sie. «Ich lass dir jetzt ein Bad ein, dann fühlst du dich bestimmt besser. Und deine Sachen wasch ich dir gleich.»

Weil er weiterweint, kniet sie sich vor ihn hin und umarmt ihn, was sie noch nie getan hat, weil es ihr übergriffig erscheint. Sie spürt Feucht-Erbrochenes auf ihrem Leinenhemd, als sie ihn vorsichtig an sich drückt. Sie ekelt sich nicht vor ihm, auch das Hemd kann sie waschen.

Er lässt sich von ihr halten, minutenlang. Zwischen zwei Schluchzern stösst er etwas Unverständliches hervor, sie versteht nur «Mama».
«Was ist mit deiner Mutter?»
«Du sollst ihr nichts sagen!»

Wovor hat er Angst? Sina ist sicher keine Mutter, die ein Kind, dem es elend geht, schimpft oder gar bestraft. Sie vermutet, dass er sich schämt.
«In Ordnung», sagt sie. «Ich versprech’s dir. Wir sagen einfach, du hast dich mit Essen bekleckert.» Sie lässt ihm Badewasser ein und sucht ein altes T-Shirt heraus, das ihr zu klein ist. Immer noch weint er, jetzt aber sehr leise.

Im Bad lässt sie ihn allein, sicher will er sich vor ihr nicht nackt zeigen. Sie sagt ihm, dass er das schmutzige T-Shirt ins Waschbecken werfen soll, dass er ihr Duschgel benutzen kann, legt ihm ein Badetuch zurecht und zieht dann im Wohnzimmer das Polster ab. Sie lauscht ins Bad, ob sie Geräusche hört, aber es ist ganz still, nur ab und zu plätschert leise das Wasser, wenn er sich bewegt.

Als er eine Viertelstunde später aus dem Bad kommt, sind seine Haare nass, er ist barfuss und trägt nur seine Jeans. Das grosse Badetuch hat er sich über den Oberkörper gelegt. Sie reicht ihm das alte T-Shirt; als er es nimmt, rutscht das Handtuch herunter, und sie sieht es. Die blauen Flecken sind am rechten Oberarm, an der Brust und vorne an der Seite, am unteren Rippenbogen. Sie zeichnen sich deutlich auf seiner gebräunten Haut ab.
Sie erschrickt so, dass sie unwillkürlich die Hand nach seinem Arm ausstreckt. «Was hast du denn da?»

Er weicht einen Schritt zurück, guckt auf die Stelle. «Nichts», sagt er. «Nur gestossen.» Er zieht hastig das T-Shirt über, es reicht ihm bis zum Oberschenkel.
Sie bückt sich, um das Handtuch aufzuheben.
«An so vielen Stellen? Da musst du ja wild gespielt haben.»

Er antwortet nicht, sein Blick weicht ihrem aus. Er ist immer noch sehr blass, trotz des heissen Bades.
«Soll ich dir noch einen Kamillentee machen? Du kannst auch einen Zwieback dazu essen.»
«Okay.»

Sie gehen in die Küche. Er setzt sich an den Tisch, nimmt den Hund auf den Schoss. Ellen macht Tee und gibt sein T-Shirt mit dem Kissenüberzug und ein paar Wäschestücken von ihr selbst in die Maschine. Das Sofapolster kommt später dran, im Wollprogramm.

Er pustet in seinen Becher, nimmt vorsichtig einen Schluck. «Und du sagst der Mama wirklich nichts?»
«Dass du dich übergeben musstest? Eigentlich sollte sie es wissen.»
«Aber du hast es versprochen.»
«Das stimmt. Du willst es auf keinen Fall?»
«Nein.»
«Und warum nicht? Kannst du es mir erklären?»
Er schüttelt den Kopf. Er will nicht. Oder kann nicht.

«Denkst du vielleicht, sie macht sich dann Sorgen? Oder ist es dir peinlich?»
«Es ist ja schon wieder besser», sagt er und vergräbt sein Gesicht im Fell des Hundes. «Ich hab sogar schon wieder bisschen Hunger.»

Während er einen Zwieback knabbert, wäscht sie ab und denkt dabei darüber nach, warum er unbedingt vor Sina verbergen will, dass er sich übergeben musste. Die meisten Kinder gehen mit ihren Krankheiten, ob klein oder gross, gerne hausieren, lassen sich bemitleiden, pflegen, verwöhnen. Sie kennt das von ihren eigenen Söhnen. Besonders Vitus war gross darin, aus jedem noch so kleinen Wehwehchen eine lebensbedrohliche Krankheit zu machen, «gibt er mal wieder den sterbenden Schwan», hat Jock oft genervt gefragt, er war in dieser Beziehung das genaue Gegenteil. Was für einen Grund kann es geben, dass Elvis Sina seine Übelkeit verschweigen will? Fürchtet er, dass sie ihm eine abendliche Unternehmung verbietet, wenn sie ihn für krank hält? Dass er früher ins Bett muss? Hat er etwas gegessen, was er nicht durfte, und fürchtet jetzt ihren Ärger? Oder geht es gar nicht um Sina, sondern um deren Partner?

Sie gibt sich wirklich Mühe, dem Mann ohne Vorurteile zu begegnen, so wie sie es bei allen Menschen versucht, aber irgendetwas an ihm ist ihr unsympathisch. Sie hat gar keinen erklärbaren Grund dafür, es ist reiner Instinkt. Als er Elvis am Freitagabend abgeholt hat, war er ausgesprochen höflich, er begrüsste sie mit ihrem Namen und erklärte, dass Sina noch in ihrer Agentur sei. Er kam offenbar direkt aus dem Büro, er trug einen Anzug samt Krawatte. Elvis war noch auf der Toilette; sie bat ihn also herein und bot ihm ein Glas Eistee an, er lehnte, wieder sehr höflich, ab.

Sie standen etwas befangen im Flur herum und machten bemüht Konversation, vor allem über das anhaltend heisse Wetter. Ihr fiel auf, dass er sie kaum ansah, den Blick schweifen liess, er fühlte sich offenbar ebenso unbehaglich wie sie, obwohl sie normalerweise mit Fremden leicht ins Gespräch kommt. Er roch nach Pfefferminz und einem Eau de Toilette, sie fand den Duft aufdringlich, auch der Hund, der Besucher ansonsten neugierig beschnuppert, wandte sich schnell von ihm ab. Nach ein paar Minuten wurde er ungeduldig.

«Wo bleibst du, Sportsfreund?», rief er in Richtung Badezimmertür, «leg mal einen Zacken zu!»
«Komme schon», rief Elvis zurück, sie konnte hören, wie er das Klopapier abrollte. Beim Abschied bedankte er sich und wünschte ihr ein schönes Wochenende, bevor er Elvis durch die Wohnungstür schob. Sein Geruch hing noch am Abend im Flur, «du hattest offenbar Herrenbesuch», hatte Miri amüsiert gesagt, als sie vom Bahnhof kamen, «mit einem schlechten Parfum-Geschmack». Sie hat kurz von ihm erzählt und ihn als Waserl beschrieben, ein Ausdruck, den Jock oft benutzte. Sie hat die Bezeichnung gleich darauf zurückgenommen, sie kennt den Mann ja kaum und weiss nicht, ob er wirklich ängstlich und verdruckst ist, sie muss sich hüten, vorschnelle Urteile zu fällen, darf sich nicht zu viel einbilden auf ihre Menschenkenntnis.

Nach dem Zwieback fragt Elvis, ob er sich eine Kindersendung anschauen darf, die eine halbe Stunde dauert. Sie will ihm erklären, wie man den Fernseher einschaltet, aber er schafft es allein und jongliert routiniert mit den beiden Fernbedienungen, die sie inzwischen braucht, um überhaupt etwas gucken zu können, weil ohne eine Tv-Box nichts mehr geht, was sie jedes Mal ärgert. Für den Blu-Ray-Player hat sie eine dritte und eine vierte für die Stereoanlage, und immer sucht sie eins dieser Teile, ab und zu drückt sie auch auf einen falschen Knopf und landet in einem hochkomplizierten Menü, von dem sie bestenfalls die Hälfte versteht. Sie hält sich für technisch halbwegs auf der Höhe der Zeit, sie kann gut mit dem Handy umgehen, es kommt öfter vor, dass sie das Problem eines anderen lösen kann.

Neulich hat sie Anne erklärt, dass es hilft, das Ding auszuschalten, wenn es sich aufgehängt hat. Aber gut, Anne zählt nicht, die kommt sogar schon beim Mailen ins Schleudern. Sie hingegen kann versiert Texte formatieren, Fotos bearbeiten und scannen und Bilder in Dokumente einfügen, sogar halbwegs Excel, und ab und zu skypt sie mit Benedikt und Freja und Valerie. Aber der Fernseher samt Tv-Box nervt sie einfach. Sie erinnert sich an die Zeiten, als es noch überhaupt keine Fernbedienungen gab; wenn man das Programm wechseln wollte – es gab überhaupt nur drei und die auch höchstens bis Mitternacht –, musste man aufstehen, auch wenn man die Lautstärke regulieren wollte oder die Helligkeit.

Auf ihren Fernbedienungen jetzt gibt es Tasten, von deren Funktion sie keine Ahnung hat, die sie offenbar aber auch nicht braucht. Sie hat beispielsweise nicht gewusst, wozu die Taste mit der ominösen Aufschrift «epg» gut ist, das hat ihr erst Henry gesagt. Er wollte ihr auch sämtliche anderen Tasten erklären, aber sie hat abgelehnt, Unwichtiges merkt sie sich ohnehin nicht.

Sie setzt sich in den Sessel und strickt an dem Pullover für Valerie weiter, drei Nummern größer, sonst ist er nach spätestens einem halben Jahr schon zu knapp. Immerhin gibt es jetzt bald einen potenziellen neuen Träger. Oder eine Trägerin. Sie wirft immer wieder einen Blick auf Elvis, der ganz versunken und mit halboffenem Mund auf den Fernseher und den Zeichentrickfilm starrt, der vor allem laut ist, sie blendet den Ton innerlich aus. Diese blauen Flecken. Und an diesen komischen Stellen. Kann sich ein Kind wirklich während zwei Tagen so verletzen?

Natürlich kann es. Sie erinnert sich an einen Frühlingssamstag vor fast dreissig Jahren, Vitus war sechs, im Herbst würde er in die Schule kommen. Jock war zu einer Motorradtour mit Henry aufgebrochen, sie war mit den Kindern auf den Markt einkaufen gegangen und hatte dann mit ihnen einen Kuchen gebacken. Als sie ihn rausnahm, auf den Herd stellte und sich für einen Moment umdrehte, hatte Vitus mit der flachen Hand an die heisse Springform gefasst, obwohl sie ihn natürlich tausendmal davor gewarnt hatte, aber wie alle Menschen wurde er nur durch Schaden klug. Die Hand sah übel aus, Vitus schrie und kreischte ohrenbetäubend.

Weil sie, sträflich für eine Mutter von zwei lebhaften Jungs, weder Brandsalbe noch Verbandsmaterial im Haus und die Apotheke natürlich schon geschlossen hatte, fuhr sie mit den beiden Kindern in die Notaufnahme des Klinikums Rechts der Isar, wo sie mehr als eine Stunde warten mussten. Es war der Samstag vor Pfingsten und der Wartebereich rappelvoll. Sie hielt den jammernden Vitus auf dem Schoss und kühlte die verbrannte Stelle mit Eispacks, die sie geistesgegenwärtig noch aus dem Tiefkühler gezerrt hatte. Benedikt sass neben Vitus und war voll des Mitleids. Er bot dem kleinen Bruder seinen liebsten Ninja Turtle Michelangelo zum Trost an, Vitus griff natürlich sofort zu.

Damit die Zeit schneller herumging, liess Ellen Benedikt vom Kiosk im Erdgeschoss drei Eisbecher holen. Er brachte natürlich das teuerste Eis am Stiel, das es sonst nur in grossen Ausnahmefällen gab. Gerade als sie es ausgepackt hatten, wurden sie aufgerufen. Ellen sagte Benedikt, er solle auf sie warten, aber er weigerte sich. Und beide Jungs wollten keinesfalls auf ihr Eis verzichten, Ellen hatte ihres schon in einen Mülleimer geworfen. Also lief sie schwitzend, das eine Kind auf dem Arm, das andere an der klebrigen Hand, hinter der Schwester her. Natürlich sauten die Jungs sich mit dem Eis ein, Vitus kleckste ihren weissen T-Shirt-Rücken mit Schokoladenstücken voll. Zum Glück war der zuständige junge Arzt sehr nett. Die Wunde wurde gesalbt und verbunden und Ellen angewiesen, in den kommenden zwei Wochen den Verband täglich zu wechseln und die Heilung zu beobachten. «Schöne Feiertage wünsche ich Ihnen», sagte der Arzt zum Abschied,
«und weniger Aufregung.»

Als sie am Nachmittag wiederkamen, hatte er immer noch Dienst. Diesmal kamen sie ohne Eis, dafür mit einem gebrochenen Schlüsselbein, beim anderen Kind. Die Prozedur dauerte wesentlich länger als bei der Verbrennung, es musste geröntgt und ein Ultraschall gemacht werden, Benedikt bekam ein Schmerzmittel und einen Rucksackverband.
«Ich hoffe mal, dass wir uns nicht wiedersehen», sagte der Arzt zum Abschied und lächelte sie an.
«Obwohl ich persönlich es eigentlich sehr schade fände.»

Sie stieg nicht ein auf den Flirt, sie war ja verheiratet und wollte nur nach Hause, hoffentlich war Jock inzwischen zurück und konnte ihr die Jungs abnehmen. Sie weiß also durchaus, es ist möglich. Und trotzdem.

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Martina Borger

Wurde 1956 geboren und arbeitete als Journalistin, Dramaturgin und Filmkritikerin, bevor sie sich aufs Drehbuchschreiben verlegte. Sie hat bei mehreren Serien als Storylinerin und Chef-Autorin gearbeitet. Gemeinsam mit Maria Elisabeth Straub veröffentlichte sie 2001 ihren ersten Roman «Katzenzungen», dem «Kleine Schwester» (2002), «Im Gehege» (2004) und «Sommer mit Emma» (2009) folgten. Ohne Co-Autorin erschien 2007 ihr Roman «Lieber Luca». Martina Borger lebt in München.


Martina Borger, «Wir holen alles nach», Roman, Diogenes

Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 2020 Diogenes Verlag AG, Zürich, www.diogenes.ch
120 / 20 / 44 / 1; ISBN 978 3 257 07130 6

Beitrag vom 04.09.2020