Familienbande 18. August 2020
Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder ist 69 Jahre alt. Als Angehörige der Risikogruppe erzählt sie jede Woche aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: vom Wiedersehen auf der Alp.
«Äs Raclette und äs Glasji Wii, ä soo solls sii». Mit diesen Worten hatte meine Cousine ihr «Vettervolk» – ein altes Dialektwort für Cousins und Cousinen – auf die «Alpe» auf 2200 Meter eingeladen. Ihre Mama war während des Lockdowns gestorben, ein Onkel kurz nach den ersten Lockerungen im kleinen Familienkreis beerdigt worden. Gemeinsames Trauern und Abschiednehmen war in dieser Zeit nicht möglich gewesen. Per Telefon und WhatsApp hatten wir einander versprochen: Wir sehen uns, sobald es die Situation zulässt.
Von überall aus der Schweiz kommen wir zusammen – aus der Ostschweiz und aus Basel, aus Zürich, Bern und dem Wallis: Ein «Vettervolk», das seine jungen Jahre längst hinter sich hat. Das Wiedersehen ist Freude pur, der Tag wie aus dem Bilderbuch: blauer Himmel, Sonne und rundum hohe Berggipfel. Wir spüren Zuneigung und Wehmut, Dankbarkeit und eine tiefe Verbundenheit. Wir lachen viel und stossen den ganzen Tag über mit dem letzten selbstgemachten Wein unseres verstorbenen Onkels an. Jemand hat eine Grabkerze angezündet. Die Erinnerungen sind lebendig. «Weisst du noch …» – so fangen viele unserer Sätze an.
In diesem Walliser Seitental haben wir in meiner Kindheit jahrelang die Sommerferien verbracht. An den Wochenenden kamen Onkel und Tanten, Raclette wurde am offenen Feuer gestrichen, das Fässchen mit dem eigenen Fendant angezapft, Wein gab es immer mehr als genug. Die Onkel spielten Mundharmonika und Handorgel, einer gab auf seinem selbstgebastelten Schlagzeug den Rhythmus vor, dazu sangen sie laut und falsch. Bis dann meine Mama mit ihrer warmen Stimme zu jodeln begann. Nie fehlte das Lied vom «Land am Rhonestrand», dem einzigen und schönsten Heimatland.
Der Umgangston in meiner Familie mütterlicherseits war rau und laut, es wurde viel gelacht und viel gestritten. Doch man hätte füreinander das letzte Hemd hergegeben. Niemand wurde verhätschelt, am wenigsten wir Kinder. Geld war kein Thema: Im Elternhaus meiner Mutter gab es keins. Trotzdem strotzten meine Onkel und Tanten vor Optimismus und Lebensfreude, kein Problem war zu gross, um nicht angepackt zu werden. Auch mir wurde eine grosse Portion von diesem Optimismus in die Wiege gelegt. Doch das Leben hat seine Spuren hinterlassen und den Optimismus vielfach übertüncht. Vielleicht wäre gerade jetzt die richtige Zeit, wieder mehr auf ihn zu bauen.
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