Kraftorte 31. August 2020

Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder ist 69 Jahre alt. Als Angehörige der Risikogruppe erzählt sie jede Woche aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: vom Gasteretal und vom «Längizyti-Bänkli».

Über Adolf Ogi ist ein neues Buch erschienen. «Lieblingsorte Dölf Ogi – im wildromantischen Gasteretal» heisst es. Mit der Kraft- und Kulturort-Forscherin Andrea Fischbacher ist der alt Bundesrat in sein Heimattal ob Kandersteg eingetaucht und hat ihr seine Kraft- und Entspannungsorte gezeigt. Die Ruhe, die grandiose Naturschönheit, das Wissen, von hier zu stammen, hierher zu gehören, würden ihn immer wieder ins Tal ziehen, sagt der Bergler und beliebte Schweizer Magistrat: «Ein Zauber liegt über dem Gasteretal. Es ist mein Lieblingstal, bestehend aus Stein und Wasser, Wind und Wetter.»

Dieses Tal der jungen Kander mit seinen schroff aufragenden Kalkfelsen, den Wildbächen und Wasserfällen, überragt von Balmhorn und Doldenhorn, ist für Adolf Ogi voller «Tankorte». So nennt er die Plätze, an denen ihm neue Ideen und andere Perspektiven schneller zufallen als andernorts. Wo er Kraft und Zuversicht tankt. Wo er über das Leben und den Tod sinniert und angesichts der seit Jahrmillionen existierenden Berggipfel eine grosse Demut empfindet. Als Bundesrat habe er mehr als einmal weinen müssen, sagt Adolf Ogi: «Hier oben weinte ich nie, hier verarbeitete ich, hier baute ich mich wieder auf». 

Mein «Tankort» ganz in der Nähe ist das «Längizyti-Bänkli» am Längenberg, bei dem ich oft auf einer meiner langen Hunderunden vorbeikomme. Der Berner Mundartdichter Rudolf von Tavel hat es in einem seiner Romane so genannt. Es steht an einer Weggabelung, von wo aus der Blick hinunter ins Tal schweift, auf den gegenüberliegenden Belpberg, Richtung Emmental und auf Thun mit seinem Schloss und dem See. Dahinter erheben sich Eiger, Mönch und Jungfrau – das «Dreigestern, wie es kein Architekt auf der ganzen Welt je so schön machen könnte», wie Adolf Ogi vor vielen Jahren einmal am Fernsehen gesagt hat. 

Immer mache ich eine kürzere oder längere Pause auf dem «Längizyti-Bänkli» und trinke einen Schluck aus der Wasserflasche. Beim Anblick der Bergwelt, des fruchtbaren Tals unter mir und der grasenden Kühe fühle ich mich wohl und getröstet. Vermeintlich Grosses wird relativ, Schräges zurechtgerückt, Quälendes verliert seine Kraft. Die Seele kommt ins Lot und Angst weicht Gelassenheit. Auch die Angst vor Corona, die mir in der Zwischenzeit mehr Angst macht als die Krankheit selber: Sie kappt Energie, belastet Beziehungen und beeinflusst Entscheidungen – im persönlichen Alltag ebenso wie auf der grossen Weltbühne.

Beitrag vom 31.08.2020
Usch Vollenwyder

Zeitlupe-Redaktorin

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