Wir holen alles nach – letztes Kapitel Von Martina Borger
Im neuen Jahr kommt er jeden zweiten Samstag, ganz zuverlässig, er hat noch keinen der Tage ausgelassen. Sina und er nehmen den Zug, am Hauptbahnhof setzt sie ihn in den Bus. Von der Haltestelle in ihrer Nähe aus geht er allein, «du musst mich nicht abholen», hat er beim ersten Mal zu Ellen gesagt, «ich hab ja Fritzi dabei, und ich kenn mich doch aus».
Sie freut sich, wie viel selbstständiger er geworden ist in den drei Monaten. Sina nutzt die freie Zeit für sich, sie geht einkaufen oder besucht eine Freundin, manchmal geht sie auch in einen Film, bei ihr auf dem Land gibt es kein Kino. Meistens trifft sie Elvis abends am Bahnhof wieder, bei Ellen abgeholt hat sie ihn erst zweimal. Sie haben einen Kaffee zusammen getrunken, Sina hat von ihrem neuen Leben erzählt, aber nicht viel mehr als die Eckdaten. Die Wohnung ist schön, sie ist nur halbtags im Büro, den Rest der Arbeit kann sie zu Hause machen und mit Elvis zusammen sein, er muss nach der Schule nicht mehr in den Hort. Sie hat inzwischen einen ganz netten Freundeskreis, die meisten ehemalige Schulkameraden und Bekannte aus ihrer Jugendzeit, fast alle verheiratet und mit Kindern. Sie kommt gut zurecht. Das Leben auf dem Land ist in vieler Hinsicht einfacher. Torsten hat sie nicht erwähnt. Und Ellen hat nicht gefragt.
Sie sind am 27. Dezember weggezogen. Sinas Vertrag lief eigentlich noch bis Ende Januar, aber es gab kaum noch Arbeit für sie in ihrer Agentur. Ihre Freundin Carmen wiederum brauchte dringend Hilfe im Reisebüro, die neue Wohnung war auch schon bezugsfertig, und aus dem Vertrag für die alte kam sie schnell raus, innerhalb einer Woche war sie neu vermietet, trotz der kurzen Frist und der natürlich erhöhten Miete.
Am Umzugstag war Ellen morgens bei ihnen vorbeigegangen, um Elvis ein Abschiedsgeschenk zu bringen, ein eigenes Exemplar von Wind in den Weiden mit wunderschönen Zeichnungen, für Fritzi hatte sie ein kleines Kissen für sein Körbchen genäht. Sina stand auf der Strasse neben dem Möbelwagen und lud ein paar Taschen mit Kleinkram in ihr eigenes Auto, das Wichtigste für die erste Nacht, wie sie erklärte. Ellen hatte angeboten, mit Elvis und Fritzi noch ein bisschen spazieren zu gehen, damit sie nicht im Weg waren.
Schon auf den ersten Metern fragte er sie. «Kann ich dich öfter mal besuchen?»
«Natürlich. Wenn deine Mutter einverstanden ist?»
«Ich hab sie schon gefragt. Sie sagt, ich darf.»
«Dann freue ich mich.» Und das tat sie, sehr sogar.
Es ist anders ohne ihn. Sie hat ihn gerade mal vor einem Jahr kennengelernt, aber in dieser kurzen Zeit hat er einen Platz in ihrem Leben eingenommen, den es vorher gar nicht gab, den er sich sozusagen selbst geschaffen hat. Sie hat seit Januar einen Ersatznachhilfeschüler, wieder ein Junge, Jonathan. Der nur gelangweilt ist, der nie lacht, der sie nie etwas fragt. Den sie nicht besonders mag. Vielleicht nur, weil er nicht Elvis ist.
Ihr Leben geht ohne ihn weiter wie zuvor, Zeitungen austragen, Sprachkurs, Nachhilfeschüler. Sie geht weiterhin viel spazieren, sie geht schwimmen, in Ausstellungen, ins Kino, manchmal mit Henry oder Kolleginnen aus der Buchhandlung, oft auch allein. In Skagen war sie noch nicht, erst will sie ihre Schul- den bei Vitus abbezahlen, die Hälfte hat sie schon geschafft. Sie hofft, dass sie die Reise bald nachholen kann, im Moment visiert sie den Juli an, wenn ihr zweites Enkelkind, wieder ein Mädchen mit Namen Liva, schon ein halbes Jahr alt sein und getauft werden wird.
Aber immerhin hat sie Vitus an seinem Geburtstag in Köln besucht, sie haben bis in den frühen Morgen mit etwa dreissig Leuten gefeiert, er hat viele Freunde, männliche und weibliche, die meisten sind etwas schrill und laut, aber alle sehr nett, sie hat sich wohl und willkommen gefühlt. An Silvester ist Miri zu Besuch gekommen, ohne ihren Hanno, der seine erwachsene Tochter in Paris besucht hat, worauf Miri angeblich keine Lust hatte. Ellen vermutet eher, dass sie das Gefühl hatte, sich um ihre Freundin ein bisschen kümmern zu müssen, was eigentlich nicht nötig war; Bernhard und seine Frau hatten sie auf eine Party in ihrem Haus eingeladen, vorher hatte sie in ein Orgelkonzert gehen wollen, aber natürlich freute sie sich sehr über den Besuch, sie hatten drei wirklich schöne Tage miteinander.
Gut, sagt sie, wenn sie gefragt wird, wie es ihr geht, von Miri oder Vitus oder Benedikt oder Henry. Und es stimmt ja auch. Worüber sollte sie sich beklagen? Sie hat ein gutes Leben. Das nur wieder ein bisschen farbloser geworden ist, ein bisschen enger und kleiner. Aber, so sagt sie es sich immer wieder, es ist normal in ihrem Alter, dass alles nachlässt, weniger wird. Und es nicht mehr so viel gibt, auf das man sich freuen kann. Nicht mehr so viel, aber doch noch genug.
Obwohl seine Besuche fest vereinbart sind, bestätigt Elvis sie einen Tag vorher immer noch einmal, per WhatsApp. Wir kommen morgen ganz bestimmt. Meistens schickt er noch ein Foto von Fritzi mit, oder er schreibt, wie viel der Pudel jetzt wiegt und was er schon alles kann, momentan übt er mit ihm Pfötchengeben.
Am Anfang hat Ellen sich vor seinen Besuchen immer etwas Besonderes überlegt, sie hat DVDs in der Bücherei besorgt, ihre Spiele durchgesehen, das Kinoprogramm. Aber Elvis will gar nichts Besonderes, am liebsten nur nach einem längeren Spaziergang, den sie mit Fritzi unternehmen, mit ihr auf dem Sofa sitzen und sich unterhalten, es wird ihm nie langweilig. Also backt sie inzwischen für ihn einen Kuchen, Schokolade oder Karotte, die mag er am liebsten. Sie macht ihm einen Kakao oder presst ihm einen Saft, und dann setzen sie sich zusammen hin und reden, der Hund, schläfrig nach dem Spaziergang, liegt zwischen ihnen und lässt sich von beiden Seiten streicheln.
Er kommt um kurz nach eins, sie hört an der Wohnungstür, wie er eilig zu ihr heraufläuft, Fritzi auf dem Arm, der noch keine Treppen steigen soll. Der Pudel ist wieder gewachsen, auch Elvis kommt Ellen grösser vor, auch kräftiger, «momentan frisst er mir die Haare vom Kopf», hat Sina neulich gesagt. Es scheint ihm wirklich gutzugehen. Er hat sich in der Schule offenbar schnell eingelebt und sich mit seinem Banknachbarn namens Tobias angefreundet, der von einem Bauernhof ein paar Kilometer weiter kommt und bei dem Elvis viel Zeit verbringt.
Seine Noten sind sogar ein bisschen besser geworden auf der neuen Schule, trotzdem zögert Sina, ob sie ihn aufs Gymnasium schicken soll, falls er die Empfehlung dafür bekommt. Im Moment denkt sie eher an die Realschule, auch weil Elvis es unbedingt will, zusammen mit Tobias.
«Ich bin jetzt auch im Turnverein», erzählt er ihr, während sie neben dem Grünstreifen warten, dass Fritzi sein großes Geschäft erledigt.
«Mit deinem Freund?»
«Ja. Gestern sind wir Trampolin gesprungen, das war toll.»
Fritzi ist fertig, Elvis zieht eine grüne Tüte aus seiner Jeans und sammelt geschickt die Hinterlassenschaft auf, die er im Mülleimer an der Ecke entsorgt. Inzwischen ist er ein recht routinierter Hundebesitzer. Er holt ein Leckerli aus einem kleinen roten Beutel, den er an seinem Gürtel trägt.
«Du bist ja bestens ausgerüstet!»
«Hab ich von Torsten. Zu Fritzis halbem Geburtstag.»
Er ist also wieder Teil ihres Lebens? «Ach ja? Hat er euch schon in der neuen Wohnung besucht?»
«Noch nicht. Vielleicht später, sagt die Mama. Aber sie telefonieren manchmal.»
«Wie schön.» Sie hofft, dass es wirklich schön ist, für Sina vor allem. Und sie fühlt auch ein Gefühl der Erleichterung. Vielleicht ist noch nicht alles verloren.
Im Weitergehen hält Elvis Ellen die Leine hin.
«Magst du ihn führen? Weil du doch jetzt keinen mehr hast.»
Der kurze vertraute Schmerz, den Ellen verspürt, wird verdrängt von Rührung über Elvis’ Fürsorge. Dieses durch und durch freundliche und arglose Kind. Sie hat seine Zuneigung und Rücksichtnahme gar nicht verdient.
«Gerne», sagt sie. «Danke.»
«Bist du noch traurig?»
«Ja», sagt sie, «schon.»
«Wenn Fritzi was passieren würde», sagt er inbrünstig, «dann würde ich auch nicht mehr leben wollen. Aber Pudel werden ganz schön alt.»
«Bis zu siebzehn Jahren, hab ich gelesen.» Falls Fritzi tatsächlich so lange leben sollte, wäre Elvis dann sechsundzwanzig, ein erwachsener Mann. Dennoch wird ihn der Schmerz mit voller Wucht treffen, das ahnt sie, so wie sie ihn kennt. Aber darüber soll er sich heute noch keine Gedanken machen, jeder Kummer kommt früh genug.
Obwohl es noch frisch ist, setzen sie sich im Park eine Weile auf eine Bank und sehen Fritzi zu, der mit einem noch kleineren Terrier auf der Wiese um die Wette rennt, er ist schon ziemlich schnell.
«Ellen?»
«Ja?»
«Ich wollte dich was fragen.»
«Dann frag.»
«Die Mama hat gesagt, ich soll es selber tun.»
«Du machst es ja spannend.»
«Also, es sind doch bald Osterferien …»
«In knapp vier Wochen, ja.»
«Die Mama will wandern gehen, in Italien. Mit Molly, das ist ihre Freundin. Eine ganze Woche.»
«Und du wanderst mit?»
«Könnt ich schon», sagt er. «Aber ich hab nicht so Lust. Weil da sind nur Erwachsene.»
«Verstehe.» Sie glaubt zu wissen, worauf seine Frage hinausläuft.
«Und der Tobias fährt mit seinen Eltern zu seiner Oma, die wird nämlich sechzig. Und da hab ich gedacht …«», er zieht kräftig die Nase hoch, «also ich wollte dich fragen, ob ich dann vielleicht zu dir kommen kann.»
«Ach ja?» Sie kramt in ihrer Jackentasche nach einem Taschentuch.
«Mit Fritzi natürlich. Wenn du es erlaubst.»
Sie reicht ihm das Taschentuch, er nimmt es, sieht sie erwartungsvoll an.
»Ich kann eine Luftmatratze mitbringen. Weil du doch nur ein Bett hast.«
«Eine ganze Woche?» Gemein, dass sie ihn zappeln lässt, aber sie will es noch ein bisschen hinauszögern, dieses Gefühl geniessen. Wie lange wird er sie so etwas noch fragen?
«Ja. Ich würde dich auch nicht stören. Und dir auch helfen, im Haushalt und so.»
Ein, zwei Jahre vielleicht, höchstens drei. Das ist einerseits nicht viel, andererseits aber eine ganze Menge.
«Ich würde mich sehr freuen, wenn ihr kommt, Fritzi und du», sagt sie. «Ihr seid herzlich willkommen, jederzeit, das kannst du deiner Mutter ausrichten.»
Er strahlt. «Hab ich’s doch gewusst», sagt er triumphierend. «Ich kenn dich eben ganz schön gut.» Ellen muss lachen. »«a, das tust du wirklich«», sagt sie. Obwohl er ganz sicher nicht ahnt, was für eine
Freude er ihr macht.
Er faltet das Taschentuch auseinander und schneuzt sich heftig hinein. «Also dann kommen wir bald. Aber jetzt ist mir ganz schön kalt. Und Hunger hab ich auch. Wollen wir nach Hause gehen?»
Er zielt mit dem zusammengeknüllten Taschentuch auf den Mülleimer ein paar Meter weiter. Und trifft.
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Martina Borger
Wurde 1956 geboren und arbeitete als Journalistin, Dramaturgin und Filmkritikerin, bevor sie sich aufs Drehbuchschreiben verlegte. Sie hat bei mehreren Serien als Storylinerin und Chef-Autorin gearbeitet. Gemeinsam mit Maria Elisabeth Straub veröffentlichte sie 2001 ihren ersten Roman «Katzenzungen», dem «Kleine Schwester» (2002), «Im Gehege» (2004) und «Sommer mit Emma» (2009) folgten. Ohne Co-Autorin erschien 2007 ihr Roman «Lieber Luca». Martina Borger lebt in München.
Martina Borger, «Wir holen alles nach», Roman, Diogenes
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120 / 20 / 44 / 1; ISBN 978 3 257 07130 6