© Bernard van Dierendonck

«Ich glaube, ich bin süchtig nach Ruhe»

Andreas Vollenweider über sein neues Album, das Schreiben, die Malerei und sein Verhältnis zur Musik.

Von Marc Bodmer

Sie haben in Ihrer 11 Jahre dauernden Pause nicht nur ein Buch geschrieben, sondern auch ein davon inspiriertes Album, das Sie «Quiet Places», Orte der Stille, nennen. Ist dieser Titel nicht irreführend.
Das kommt darauf an, wie man die Musik hört. Sie analysieren vielleicht die Musik, wollen wissen, was sich darin verbirgt. 

Nein, nicht wirklich. Für mich ist der Moment entscheidend, wann ich welche Musik höre. Es gibt Tage, an denen finde ich «meine» Musik nicht. Dann lasse ich es bleiben.
So geht es mir mit 90 Prozent der Zeit. 

Wenn ich Ihr Album höre, sind das für mich nicht Orte der Stille, sondern Orte, die leben. Einmal hatte ich das Gefühl, im Appenzell zu sein, dann wieder anderswo in Spanien oder Argentinien, weil ich Anklänge eines Tangos ausmachte. Ich geniesse es, so wie ich ein gutes Glas Wein geniesse, obschon ich davon keine Ahnung habe. 
Die Stille ist für mich nicht tot, sie ist die Landschaft, in der sich Leben bildet. «Quiet Places» sind für mich Orte, die möglichst keinen Bezug zu etwas Realem, Konkretem, Bekanntem haben. So kann eine Resonanz aus der eigenen, meist verborgenen Tiefe der Hörerinnen und Hörer entstehen. Dazu müssen wir uns aber eben zurückziehen können. Ein Albumtitel wie «Quiet Places» assoziiert diesen Vorgang bereits und erleichtert es etwas, das «aussen» besser beiseite schieben zu können. 

Von ihren Friends aus früheren Tagen ist nur noch Schlagzeuger Walter Keiser mit von der Partie.
Es sind meist nur drei, manchmal auch nur zwei Instrumente in den Stücken von «Quiet Places» zu hören. Rückblickend muss ich sagen, dass ich früher oft ziemlich übertrieben habe. Das war hie und da geprägt von meiner Tendenz zu barocker Üppigkeit. So koche, schreibe und male ich, und so lebe ich auch. Vielleicht ist das nun eine gewisse «Altersmilde», aber dieses Mal ging es mir um die intimeren Dialoge, um das feinere Zusammenspiel, ohne dass man von einer Fülle an Klängen überwältigt wird. 

Auch in dieser minimalen Besetzung entsteht eine gewaltige Wucht. Was allein die Cellistin Isabel Gehweiler aus ihrem Instrument herausholt, ist unglaublich. Es braucht nicht mehr
Genau. Das war deshalb auch für mich ein Lehrstück. Aber dazu braucht es musikalische Partner wie Isabel Gehweiler, die auf ihrem Instrument schier unbegrenzte Ausdrucksmöglichkeiten entwickelt hat, um ihre Geschichten zu erzählen. Und da kommt eben auch mein vielleicht etwas ungewöhnlicher kreativer Ansatz ins Spiel. Wenn man mich nach meinem Beruf fragt, so antworte ich stets: «Ich bin nicht Musiker. Ich bin Geschichtenerzähler.» Als Geschichtenerzähler hat man gerne viele Farben, Figuren, spannende Elemente zur Verfügung. Damit schafft man dann so etwas wie eine virtuelle Realität. Eine Geschichte nur mit einem oder zwei Instrumenten zu erzählen, ist unglaublich anspruchsvoll. Es braucht eine völlig andere Herangehensweise. 

Trifft es zu, dass Ihr Roman «Im Spiegel der Venus» die Inspiration für das Album war? 
Es ging in beide Richtungen. Der Roman beflügelte die Musik, und umgekehrt. Das schloss aber auch die Malerei ein, die dann auch zum kalligrafischen Motiv auf dem Umschlag des Buches und des Albums führte.

Es war also eine parallele Entwicklung.
Ich habe mein Leben lang immer auch geschrieben – allerdings nur für mich. Bereits als kleiner Junge. Wie in einem erweiterten Tagebuch habe ich mich schon damals schreibend mit schwierigen Fragen und Themen auseinandergesetzt, die mich durch einfaches Nachdenken oft überfordert hätten. Die schriftliche Form erlaubte es mir, die Inhalte zu ordnen, oft auch durch Zeichnungen. Im Entstehungsprozess des Romans half mir die Musik, Dinge zu verarbeiten, die ich geschrieben hatte. Ich habe damit eine Brücke bauen können von der Gedankenwelt in die emotionale Welt. Dieses Wechselspiel funktionierte wunderbar für mich. Einmal stiess dann Isabell Gehweiler hinzu, eine grossartige Improvisatorin. Sie verfügt über das absolute Gehör, was sonst eher hinderlich sein kann. Aber sie hat eine ausgeprägte Intuition, die ihr unglaublich treffsicher souffliert, wo es hingehen könnte. Und da wir diese Eigenschaft teilen, haben wir kaum eine Minute zusammengespielt und bereits war klar, dass hier etwas Besonderes entsteht. Die ersten Aufnahmen bilden denn auch die Basis des ganzen Albums. 

Es sind also Erstaufnahmen.
Es sind thematische Improvisationen, das heisst, die Musik kann nie zweimal gleich sein, weil sie, bis auf ein loses Grundgerüst, frei gespielt ist. So erarbeiten wir kleine Themen , die wie Ankerpunkte funktionieren. Von diesen gehen wir aus, wechseln wieder in die Improvisation und auf ein Zeichen zurück zum nächsten Ankerpunkt. Beim Improvisieren kommt man sich sehr nah. Viele glauben, dass man nur gut auf einander hören und reagieren muss. Das wäre viel zu eng, oder anders gesagt: so bleibt alles in einem sehr beschränkten Rahmen. Wenn man wirklich frei spielt, dann betritt man einen besonderen, ja, ich würde sagen, geheimnisvollen Raum. Das geschieht ganz schnell oder gar nicht. In meiner Kindheit spielte ich oft auf diese Weise mit meinem Vater. Da kam es häufig vor, dass wir über längere Zeit synchron der gleichen Melodie folgten, als wären wir aneinandergebunden. Zuerst dachte ich, dass dies vielleicht genetisch bedingt sei. Aber heute weiss ich, dass da eben viel mehr dahintersteckt.

Musik hat eine unglaubliche Macht. Hat sich Ihr Verhältnis zur Musik über die Jahre verändert? Sie sind nun …
In 13 Jahren bin ich 80 Jahre alt. Das habe ich kürzlich herausgefunden. (lacht)

Was bedeutet das für Sie?
Die Zahl ist völlig bedeutungslos. Natürlich sind da hin und wieder kleine Gebresten, aber meist merke ich keinen wirklichen Unterschied zu früher. Im Gegenteil, ich habe da heute einen Trick. Ich bin wie ein grosses Schiff. Wenn es einmal Fahrt aufgenommen hat, darf es nicht mehr anhalten, weil das immense Kraft benötigt. So schaue ich, dass ich immer in voller Fahrt bin und noch so vielen Ideen nachjage, dass ich weiter in Bewegung bleiben muss. Ich halte einfach nicht an. Ich sehe bei anderen, die immer wieder anhalten, wie viel Energie sie aufwenden müssen, um wieder in Fahrt zu kommen. Irgendwann hat man diese Energie nicht mehr, dann kommt der Stillstand. 

Andreas Vollenweider im Interview mit der Zeitlupe.
© Bernard van Dierendonck

In der Zeit Ihrer «Pause» hat sich das Musikgeschäft komplett verändert. Die CD ist praktische verschwunden, die Digitalisierung ist fortgeschritten. Streaming-Plattformen wie Spotify oder Apple Music dominieren das Geschäft. Was hat das für Sie bedeutet?
Die einschneidenste Veränderung ist für mich das Ende der Albumkultur und dass Stücke häufig einzeln und nicht mehr im Kontext gehört werden. Aber in den bald 50 Jahren, in denen ich als Musiker unterwegs bin, hat sich ohnehin sehr viel verändert. Deshalb begegne ich dem Wandel ziemlich gelassen. Entscheidend für mich sind die Bedürfnisse der Hörerinnen und Hörer, und es scheint wahrscheinlich, dass es wohl eine Gegenbewegung zum Häppchenkonsum geben wird. Die grösste Veränderung fand aber mit der Industrialisierung der Musik statt. Es ging nur noch um den Verkauf grosser Stückzahlen. Das fing mit dem Rock’n’roll an. Fortan stand nur noch der Profit im Zentrum. Das hatte grosse Auswirkungen auf die Entscheidungen der Musiker und vor allem der Plattenfirmen. Das Hochwertige war nicht vordergründig. Die zweite grosse Umwälzung kam mit dem Wechsel von der LP zur CD. Ganz viele Leute haben sich unglaublich viel versprochen von der CD und dachten, dass sie künftig keinen Plattenspieler mehr brauchten. Mit dem Verschwinden der Plattenspieler verschwand auch viel Musik, die es nur auf Schallplatten gegeben hat. Damit wurde unglaublich viel Musik nicht mehr gehört. Das gab einen kulturellen Knick. Und als drittes gehört für mich der Verlust von Konzeptalben dazu. Heute hören nur noch wenige Leute ein Album am Stück, abgesehen von der Klassik. Man pickt sich eher da und dort ein Stück heraus. Hier zeigt sich eine Welt der endlosen unverbindlichen Optionen. 

Ein Album ist eigentlich eine Geschichte.
Ja, als Geschichtenerzähler leide ich natürlich. Mit einem Album erzähle ich auch heute noch eine Geschichte, nur muss ich jetzt dafür sorgen, dass es zwischendurch Pausen gibt. Sonst schneidet es mir bei Spotify und Co. einfach den Anfang und den Schluss des Songs ab. Rückwirkend kann ich das leider nicht mehr ändern.

Was hören Sie für Musik?
Im Grund sind meine Vorlieben sehr eklektisch. Was ich immer in allem suche, ist die Tiefe. Sonst interessiert es mich nicht. Ich höre aber noch immer gerne klassische Musik aufgrund ihrer Gesamtwirkung und ihrer Bildhaftigkeit. Ich bin auch mit Bach und Beethoven aufgewachsen. Um sie geniessen zu können, muss ich mich wirklich hinsetzen, aber dazu komme ich selten, weil mein Schiff so schnell fährt (lacht). Es gibt immer auch Phasen, in denen ich sogar Mozart ausschalten muss, weil ich es plötzlich als ein endloses Gedudel empfinde. Schon genial und wunderschön, aber ich ziehe oft die absolute Ruhe vor. Mein Studio liegt in einem Naturschutzgebiet. Dort hört man nichts, ausser dem unglaublichen Melodienreichtum der Vögel. So bin ich süchtig geworden nach Ruhe, um dann aber trotzdem wieder voll einzutauchen in die Welt des Klangs. 

Die Inspirationen holen Sie nicht aus anderer Musik?
Nein, das habe ich eigentlich nie, aber das lässt sich nicht abschliessend sagen. Bei mir ist immer alles aus der Improvisation entstanden. Natürlich bleibt es ewig unklar, ob und wie andere Klänge ihren Weg in die eigene Musik finden. Als ich mich entschied, mein Buch zu schreiben, sagte ein guter Freund von mir: «Lass das Buch sich selber schreiben. Plötzlich tauchen da Figuren und Protagonisten auf, mit denen du gar nicht gerechnet hast.» Das stimmt total, und das ist der Hochgenuss des Schreibens. Ich musste sogar Figuren gewaltsam aus der Geschichte herausschreiben, weil sie störten und zu viel Ego entwickelt hatten. Und das ist bei jeder Kunstform so, auch bei der Musik. Ich teile die Sicht vieler Künstlerinnen, Musiker, Maler, Schriftstellerinnen, die irgendwann einmal etwas Signifikantes gemacht haben. Wenn sie selbst ihre Werke betrachten oder hören, sagen die meisten, dass sie nicht genau wissen, woher das alles gekommen ist. Darin herrscht grosse Einigkeit unter den Kreativen: Wir sind nicht die alleinigen Verursacher. Irgendetwas arbeitet da im Hintergrund mit. 

Haben Sie eine Erklärung dafür?
Wir sind umgeben von einem Gesamtfeld an Informationen. Alles, was es gibt, was es je gegeben hat und geben wird, ist als Information um uns herum. Das ist für unseren intellektuellen Verstand nicht erfassbar. Wir sind von diesem Feld getrennt durch so etwas wie eine hauchdünne Haut, eine Membran. Sie ist vergleichbar mit dem Uterus, der dicke und dünne Stellen hat. Kreative Menschen gehen ganz nahe an diese Membran heran, suchen dort eine möglichst dünne Stelle, bei der sie durchhorchen oder durchsehen können. Dann und wann dringt eine Melodie oder ein Fragment durch, das man, wenn man Glück hat, aufschnappt und darauf aufbauen kann. Dann hat man etwas, dessen Ursprung man nicht erklären kann. Alles nur als eine Leistung des Egos zu erklären, ist zwar typisch Mensch, aber viel zu ungenau. Wie bei einem Eisberg ist der grösste und wichtigste Teil unserer Existenz unter der Oberfläche und ewig unerklärbar. Mich würde das Leben langweilen, wenn es nicht so wäre. 

Mehr zur Person und zum neuen Roman von Andreas Vollenweider lesen Sie in der November-Ausgabe der Zeitlupe.

Musik für ruhige Momente

CD Cover Quiet PlacesNach elf Jahren Pause meldet sich Andreas Vollenweider mit dem Album «Quiet Places» zurück.

Zusammen mit der exzellenten Cellistin Isabel Gehweiler und dem langjährigen Wegbegleiter Walter Keiser am Schlagzeug hat Andreas Vollenweider (Harfe und Klavier) zehn Songs eingespielt, die aus Improvisationen im Trio hervorgegangen sind. Weg ist die Üppigkeit von damals, was nicht heisst, dass die Stücke nicht über Wucht verfügen. Vollenweider bezeichnet sie als «Musik für kostbare, ruhige Momente». In diesen nimmt sie die Hörerinnen und Hörer auf imaginäre Reisen mit, wie man sie  selten mehr erlebt.

«Quiet Places», Andreas Vollenweider, LP/CD/Streaming 

Beitrag vom 08.11.2020
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