Advent 1. Dezember 2021
Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder (69) erzählt seit Beginn der Corona-Krise jede Woche aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von nostalgischen Erinnerungen, aktiven Dezemberferien und der Rose von Jericho.
Als die Kinder noch klein waren, lag ein besonderer Zauber über den Adventstagen: Mailänderli und Spitzbuben backen, warten auf den ersten Schnee, das Haus weihnachtlich schmücken, einen Adventskranz binden, im Wald den Samichlous suchen, Geschenke basteln, Weihnachtslieder singen, den Mitternachtsgottesdienst besuchen … Ich werde nostalgisch beim Gedanken an die heile Kinderweihnachtswelt von anno dazumal. Allerdings erinnere ich mich auch noch gut, wie aus den süssen Kleinen schwarzgekleidete gepiercte Teenager wurden und der Heiligabend höchstens noch mit einem Actionfilm am Nachmittag gerettet werden konnte.
Aus den mürrischen Teenagern sind schliesslich junge Erwachsene geworden. Seither bin ich der adventlichen Pflichten enthoben: kein Basteln, Backen und Dekorieren mehr. Der Weihnachtsschmuck verschwand in Kisten auf den Estrich. Seither ist der Dezember mein Lieblingsmonat. Jeweils eine Ferienwoche verbringen wir in einer anderen weihnachtlich herausgeputzten Stadt. Daneben besuchen wir das eine oder andere Weihnachtskonzert, ich singe im Advents-Gospelchor mit und gehe nur noch in den Mitternachtsgottesdienst, wenn ich Lust dazu habe.
Doch dieses Jahr ist alles anders. Weihnachten ist abgesagt. Es heisst zu Hause bleiben. So will ich es mir für die nächsten vier Wochen wenigstens gemütlich einzurichten. Als erstes hole ich den Weihnachtsschmuck vom Estrich. Es sind drei Kisten – angeschrieben mit «Krippe», «Adventssachen» und «Christbaumschmuck». Neugierig öffne ich sie – und bin in eine andere Zeit versetzt: Da sind die längst verblassten Sterne aus Seidenpapier, die meine mir unbekannte Schwiegermutter einst gefaltet hat. In einer Schachtel liegt eine silberne Girlande mit farbigen Kügelchen von meiner Grossmutter. Die Krippenfiguren, die meine verstorbene Freundin liebevoll und detailgetreu genäht hatte, sind sorgfältig in Seidenpapier eingewickelt.
Den ganzen Sonntag über schmücke ich das Haus. Ins Fenster neben der Haustür stelle ich den schwedischen Leuchter – ein Andenken meiner Eltern an ihre ebenfalls längst verstorbenen Freunde in Stockholm. Das mit einer Winterlandschaft handbemalte Glöcklein von meinem russischen Freund Dmitri hänge ich an die Lampe über meinem Schreibtisch. In der Hand halte ich die Rose von Jericho, vor vielen Jahren ein Geschenk meiner Tochter. Sie ist zu einem unansehnlichen braunen Klumpen zusammengerollt. Sorgfältig giesse ich Wasser darüber und spüre, wie sich die dürren Zweiglein aufzurichten beginnen. Wenig später hat sich die Wüstenpflanze entfaltet, kräftig grün ist sie geworden. Ein Wunder.
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