Tausende Menschen haben hierzulande jemanden an Covid-19 verloren. Eine Hommage an die Walliserin Veronika Näpfli, verstorben mit 95 Jahren, erzählt von ihrem Sohn Toni Näpfli.
Text: Fabian Rottmeier
Die Corona-Pandemie ist auch von Zahlen geprägt: positive Fälle, R-Werte, Reproduktionsraten. Dazu täglich die Anzahl Todesfälle. Um jedes Opfer trauern viele Menschen. Als die Walliserin Veronika Näpfli im April 2020 mit 95 Jahren verstarb, hinterliess sie 10 Kinder, 28 Enkel und 41 Urenkel. Drei ihrer Söhne waren bereits verstorben: Säuglingstod, Autounfall, Krankheit.
Toni Näpfli ist das viertjüngste der 13 Kinder und gründete vor rund 40 Jahren im aargauischen Mülligen eine Familie. Er durfte seine Mutter wegen der Corona-Situation schon einen Monat lang nicht mehr im Alters- und Pflegeheim St. Antonius in Saas-Grund besuchen, als sie am Coronavirus starb – wie innert acht Wochen 14 weitere Bewohnerinnen und Bewohner. Das Besuchsverbot habe seiner Mutter, die bereits wegen eines Sturzes geschwächt war und von Begegnungen mit ihren Liebsten lebte, stark zugesetzt, sagt der 65-Jährige. Wie viele andere konnte auch er sich im Lockdown bloss per Videoanruf von seiner Mutter verabschieden. So dankbar er über diese Möglichkeit war – er fühlte sich machtlos. Er ist überzeugt, dass seine Mutter ohne das Virus noch heute leben würde. «Auch mit 95 war sie enorm präsent.» Sie spielte mit den Urenkeln Memory, strickte ihre Muster stets auswendig und war über jedes Skirennen im Bild. Und als er sie vor zwei Jahren im Spass fragte, weshalb sie am jährlichen Jassturnier in Lalden bloss 85. wurde, entgegnete sie: «Schlechte Karten!»
«Schaffu, schaffu»»
Veronika Näpfli, geborene Venetz, war kleingewachsen, aber nicht kleinzukriegen. So beschreiben sie ihre Kinder. Ihre Willenskraft äusserte sich auch darin, dass sie sich bis zuletzt zum Ziel setzte, wieder ohne Rollator auszukommen. Toni Näpfli behält sie als bescheidene Person, die immer gut gelaunt war, in Erinnerung. Als herzliche Gastgeberin, die sich nie ins Zentrum stellte und viel Kraft aus dem Glauben und aus Pilgerreisen schöpfte. Und die stets offen für Neues blieb (etwa für ein Turnfest oder Unihockey mit über 80). «Sie war eine Kämpferin und Chrampferin.» Ihr Schlüssel zum hohen Alter? «Schaffu, schaffu», so einst ihre Antwort, worauf der viel jüngere Fragende scherzend meinte, dann werde es bei ihm wohl nicht klappen.
Ihre ersten Berufsjahre waren geprägt vom Zweiten Weltkrieg. Veronika Näpfli arbeitete in einer Bäckerei, in der Sackfabrik der Lonza und in einem Restaurant, in der ihr auch mal die Kosten für eine zerschlagene Tasse vom Lohn abgezogen wurden. Sie lernte dort, in diesem Lokal in Eyholz bei Visp, ihren späteren Mann Manfred kennen, mit dem sie bis zu dessen Tod vor 21 Jahren zusammenblieb. Die beiden heirateten mit sieben weiteren Paaren – in der Frühmesse.
Kirschen pflücken mit 90
Innert 19 Jahren gebar sie sieben Buben und sechs Mädchen. «Sie war eine herzliche Mutter, die den Laden schmiss und uns nie das Gefühl gab, dass ihr alles zu viel werde.» Ausser vielleicht, wenn die Jungs zu viert in der winzigen Küche Fussball spielten. Die Grossfamilie lebte in zwei Häusern – inklusive Stall, Scheune, Reben, Wald – und einem grossen Garten, den Veronika Näpfli 73 Jahre lang pflegte. Selbst mit 90 liess sie es sich nicht nehmen, Kirschen zu pflücken – «auf dem Baum, auf einer halb morschen Leiter», wie ihr jüngster Sohn an der Abdankungsrede präzisierte. Auch ein Schneeschaufelverbot im Winter ignorierte sie: Ihre Fussspuren verrieten es.
«Meine Mutter ist auf eine schöne Weise alt geworden», sagt Toni Näpfli. Umso trauriger sei es, dass sie sich nicht verabschieden konnte. Statt in einer überfüllten Kirche durfte die Abdankungsfeier nur im kleinen Rahmen stattfinden. «Dieses verordnete Abstandhalten, selbst auf den Sitzbänken, fühlte sich seltsam an. Gerade in Momenten, in denen man sich nach Nähe sehnt.» Auch das Leidmahl fiel aus. Toni Näpfli wollte nur noch weg – und fuhr direkt nach Hause. Ältere Menschen seien die grossen Verlierer der Pandemie, sagt er.Vor wenigen Tagen hat für den Bankfachmann ein neuer Lebensabschnitt begonnen: die Pensionierung. Er will sich dabei auch seine Mutter zum Vorbild nehmen: «Ich möchte mich von ihrer Zufrieden- und Gelassenheit inspirieren lassen – beides habe ich zuletzt wegen Corona etwas verloren.» Veronika Näpfli betonte stets, man solle «zfridu si mit dem, wamu het». Aprikosen zum Konfimachen, Wolle zum Sockenstricken, liebe Menschen zum Plaudern und Lachen: Sie brauchte wenig, um glücklich zu sein. ❋
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