«Ich bin Bundesrätin mit Haut und Haaren»
Sie ist FDP-Politikerin mit viel Exekutiverfahrung: Karin Keller-Sutter, Justizministerin und Bundesrätin aus Wil SG. Am 7. März findet die nächste Volksabstimmung statt. Im Vordergrund steht das Bundesgesetz über elektronische Identifizierungsdienste.
Text: Marianne Noser und Usch Vollenwyder; Fotos: Keystone / Alessandro della Valle
Das Pandemie-Jahr 2020 hat uns allen viel abverlangt. Was haben Sie sich an Silvester für 2021 erhofft?
Ich habe mir gewünscht, dass die Infektionszahlen Anfang Januar deutlich tiefer liegen. Das war leider nicht der Fall, und wegen der gefährlichen Corona-Mutationen befinden wir uns nun sogar in einem Teil-Lockdown. Immerhin zeigt sich aber etwas Licht am Ende des Tunnels, weil der Impfstoff viel schneller verfügbar und zugelassen wurde, als zu erwarten war.
Was versprechen Sie sich davon?
Ich hoffe, dass sich möglichst viele Leute impfen lassen und wir Schritt für Schritt zur Normalität zurückkehren können. Damit wir uns wieder unbeschwert mit anderen treffen und spontan etwas abmachen können. Was mir und sicher vielen anderen derzeit am meisten fehlt, sind der persönliche Austausch und das gesellige Zusammensein in der Familie oder im Freundeskreis.
Für Sie als Justizministerin stehen am 7. März auch noch die Abstimmungen über das E-ID-Gesetz und das Verhüllungsverbot an. Wie bewältigen Sie das alles?
Indem ich eines nach dem andern nehme. Ich muss natürlich gewisse Prioritäten setzen, weil ich neben den Arbeiten im Bundesrat, im Departement und für die Abstimmungen auch verschiedene Vorlagen in den Kommissionen und im Parlament vertrete. Meine langjährige Erfahrung in der Kantonsregierung und im Ständerat helfen mir dabei.
Wegen der Abstimmung steht das umstrittene E-ID-Gesetz weit oben auf Ihrer Prioritätenliste. Worum geht es dabei überhaupt?
Das Internet gehört für immer mehr Menschen zum Alltag, und die Pandemie hat gezeigt, wie praktisch es ist, wenn man online Dinge bestellen, Zeitungen lesen, Bankgeschäfte erledigen oder mit den Behörden verkehren kann. Hierfür müssen wir uns jeweils mit einem Login anmelden. Für all diese Anmeldeverfahren gibt es derzeit aber keinen besonderen Schutz. Und wir wissen oft nicht, was mit unseren persönlichen Daten passiert, vor allem wenn wir uns bei ausländischen Unternehmen wie Facebook, Apple oder Google anmelden.
Und das wird mit dem neuen Bundesgesetz anders?
Ja, denn damit schaffen wir erstmals einen gesetzlichen Rahmen für ein solches Anmeldeverfahren. Das ermöglicht es uns, den Umgang mit unseren Daten als Land selber zu regeln und sie nach Schweizer Recht zu schützen. Das ist eine Chance für die Schweiz.
Mit dem E-ID-Gesetz soll ein staatlich geprüfter elektronischer Identitätsnachweis – die E-ID – eingeführt werden. Was ist das genau und welche Vorteile bietet er?
Wie gesagt, die meisten von uns haben heute eine Vielzahl von Logins mit verschiedenen Benutzernamen und Passwörtern. Das ist mitunter mühsam, unübersichtlich und nicht in jedem Fall sicher. Aber auch Anbieter, unter anderem der Staat, brauchen sichere Identifikationsmöglichkeiten, um Leistungen online zugänglich zu machen. Mit einem vom Staat geprüften elektronischen Identitätsnachweis wird der Bezug von Waren und Dienstleistungen im Internet einfacher, sicherer und praktischer. Die E-ID wird in Form einer App, eines USB-Sticks oder anderer geeigneter Datenträger zur Verfügung stehen. Mit dieser E-ID können wir uns dann bei verschiedenen Onlinediensten anmelden.
Dann können Sie die E-ID mit gutem Gewissen auch älteren Menschen empfehlen?
Absolut. Mich ärgert es, wenn man den Seniorinnen und Senioren unterstellt, sie seien damit überfordert. Denn wir wissen, dass sich heute viele ältere Menschen gern in der digitalen Welt bewegen und sich darin – nicht zuletzt wegen Corona – auch immer besser zurechtfinden. Mein 91-jähriger Schwiegervater besitzt zum Beispiel ein iPad, das er fleissig nutzt und auf dem er die elektronischen Ausgaben der Zeitungen liest. Um sich diese Fähigkeiten anzueignen, hat er einen Kurs bei Pro Senectute besucht und kann heute super damit umgehen. Aber eines ist klar: Die E-ID ist freiwillig. Wer keine möchte, kann das Internet weiterhin nutzen wie bisher.
Wo kann man die E-ID denn anfordern? Auf dem Passbüro?
Nein. Der Begriff «ID» ist tatsächlich etwas verwirrend. Eine E-ID ersetzt weder Pass noch Identitätskarte, sie ist nicht einmal ein gültiger Ausweis. Mit der E-ID kann man sich lediglich im Internet einloggen und identifizieren. Sie kann dereinst bei Privaten, bei Kantonen oder Gemeinden bestellt werden, die vom Bund als E-ID-Anbieter anerkannt wurden. Kunden können künftig – wie etwa bei einem Mobiltelefon – auswählen, bei wem sie die E-ID beziehen möchten.
«Die E-ID ist kein gültiger Ausweis und ist freiwillig»
Die privaten Anbieter sind der Grund, weshalb das Referendum gegen das E-ID-Gesetz ergriffen wurde. Die Gegner der Vorlage befürchten, dass bei externen Unternehmen die Datensicherheit nicht gewährleistet sei. Wieso übernimmt der Bund die Verantwortung für diese wichtige Aufgabe nicht selber?
Es handelt sich hierbei um eine klassische Aufgabenteilung – jeder macht das, was er am besten kann. Der Staat garantiert und verwaltet die Register und Personendaten, die Anbieter übernehmen die technische Umsetzung, also die Informatiklösungen. Das macht Sinn, denn diese Anbieter können schnell und flexibel auf neue technische Möglichkeiten reagieren. Beim Pass und der ID besteht eine derartige Arbeitsteilung übrigens schon seit Langem. Wer sich also für eine E-ID interessiert, teilt dies einem der Anbieter mit. Dieser meldet die Anfrage dem Bundesamt für Polizei, wo die Identifizierung vorgenommen wird. So sind die Verantwortlichkeiten klar geregelt.
Kann der Staat mit dieser Lösung die Datensicherheit wirklich gewährleisten? Private könnten doch versuchen, die Daten für kommerzielle Zwecke zu nutzen?
Genau das ist bei der E-ID verboten. Der Staat kontrolliert, dass die Anbieter sich an die gesetzlichen Vorgaben halten. Mit dem neuen Bundesgesetz schaffen wir also einen schweizweit einheitlichen und verbindlichen Rahmen. Alle Anbieter, die eine E-ID herausgeben wollen, müssen sich zuerst anerkennen lassen. Sie werden danach streng überwacht und – falls nötig – auch wieder ausgeschlossen. Der Datenschutz im E-ID-Gesetz ist sogar strenger als im normalen Datenschutzgesetz.
In Politik, Öffentlichkeit und im privaten Rahmen dominiert nach wie vor Corona – eine schwierige Zeit gerade für ältere Menschen. Welche Erfahrungen machen Sie?
Jeweils am Samstag koche ich für meinen 91-jährigen Schwiegervater und für meinen älteren Bruder, die beide verwitwet sind und allein leben. Diese gemeinsamen Nachtessen zusammen mit meinem Mann sind für sie gerade in dieser Zeit besonders wichtig. Sie sind die einzigen Menschen, die ich – mit Ausnahme meiner Mitarbeitenden – regelmässig sehe. Meine beiden anderen Brüder, die eine Familie haben, höre ich seit letztem Sommer nur noch am Telefon.
Ihre Eltern führten ein Restaurant, ihre drei Brüder sind deutlich älter als Sie. Wie hat Ihre Familie Sie geprägt?
Für meine Eltern stand die Familie immer im Zentrum, meine Brüder und ich waren ihr Stolz. Bis heute haben wir Geschwister einen sehr guten Kontakt untereinander. Dazu gehören auch die Kinder meiner Brüder, die ihrerseits schon wieder Kinder haben. Auch meine Mutter kam bis zu ihrem Tod mit 86 Jahren jeweils am Wochenende zu uns zum Essen. Nach ihrem Tod hat es mich getröstet, dass wir uns immer diese Zeit füreinander genommen haben.
Was macht Ihnen Angst, wenn Sie an Ihr eigenes Alter denken?
Das Einzige, was mir wirklich Angst macht, ist der Gedanke, dass mein Mann vor mir sterben könnte. Wir sind seit 32 Jahren verheiratet. Er käme ohne mich besser zurecht als ich ohne ihn. Das eigene Älterwerden macht mir hingegen keine Angst. Ich versuche, für jeden Tag dankbar zu sein. Mein Vater starb bereits 1989, meine Mutter durfte ich in den Tod begleiten. Ich bewunderte ihre Bereitschaft zum Sterben. Ihr war bewusst, dass es irgendwann vorbei ist, und sie hat das immer akzeptiert. Vielleicht fürchte ich mich deshalb auch nicht vor dem Tod, obwohl ich jetzt natürlich noch nicht sterben möchte: Ich habe eine Aufgabe, ich stehe mitten im Leben, und ich will noch vieles anpacken.
«Das Einzige, was mir wirklich Angst macht, ist der Gedanke, dass mein Mann vor mir sterben könnte.»
Welches sind Ihre Kraftquellen?
Natürlich mein Mann, die Familie und meine Freunde und Freundinnen. Aber auch die Natur. Wenn immer es möglich ist, gehe ich in den Wald und versuche, den Kopf frei zubekommen. Dann kommen mir oft neue Ideen, auch um schwierige Situationen im Bundesrat zu lösen. Auf Waldspaziergängen kann ich mich erholen. Ihr Mann ist Mediziner.
Ihr Mann ist Mediziner. Ist Corona bei Ihnen ein Thema?
Mein Mann ist Leiter der städtischen Gesundheitsdienste Zürich und in dieser Funktion auch Pandemieverantwortlicher der Stadt. Wir sprechen über sehr viel, aber kaum über Corona. Mir geht es wie anderen, ich habe gerne mal ein anderes Thema. Auch im Bundesrat gibt es noch andere Themen. Diese Pandemie wird irgendwann vorbei sein – aber die Frage der Altersvorsorge, der Bundesfinanzen oder der Europapolitik wird der Bundesrat weiterhin bearbeiten und lösen müssen.
Haben Sie nie bereut, Bundesrätin geworden zu sein?
Nein. Ich fühle mich am richtigen Ort. Mir liegt die Exekutive. Ich bin mit Haut und Haaren Bundesrätin. Natürlich kann die Verantwortung eine Bürde sein. Doch wer dieses Amt antritt, muss bereit sein, die Verantwortung zu schultern. Wenn man in den Bundesrat gewählt wird, weiss man nicht, welche Zeiten kommen. Im Bundesrat müssen wir den Gesamtüberblick behalten. Wir arbeiten und entscheiden nach bestem Wissen und Gewissen. Die aktuelle Krise ist keine Frage der Ideologie. Es ist vielmehr eine Frage, wie man die Menschen schützt – ihre Gesundheit und ihre 2021 wirtschaftliche Existenz. Dabei kann der Bundesrat keine Einzelinteressen berücksichtigen und keine Lobby begünstigen. Man vergisst, dass wir derzeit kaum je die Wahl zwischen einer guten und einer schlechten Lösung haben, sondern meist nur zwischen schlechten Möglichkeiten entscheiden können. Das geht mir manchmal sehr nah. Aber es ist schlimmer, nicht zu entscheiden. Die allgegenwärtige Kritik darf man jedoch nicht zu sehr an sich heranlassen.
Ist es ein Vorteil, dass die nötigen Entscheidungen in einem Siebnergremium getroffen werden?
Im Bundesrat sind Männer und Frauen, verschiedene Landesteile und unterschiedliche Überzeugungen vertreten. Das ist gut so. Zugunsten des Landes muss man sich zusammenraufen. Gerade jetzt. In den Medien ist manchmal zu lesen, wie der Bundesrat angeblich zerstritten ist. Da kann ich nur sagen: So arbeiten wir nicht! Wir versuchen, uns immer wieder zu finden, und mussten noch über kein einziges Corona-Geschäft abstimmen.
Was geben Sie als Landesmutter den Menschen für die kommenden Wochen und Monate mit?
Geduld und Gelassenheit und annehmen, was sich nicht ändern lässt, und die Kraft für das einsetzen, was man ändern kann. Wir alle können etwas beitragen, indem wir uns an die Hygieneregeln halten: Hände waschen, Abstand, Maske. ❋
Politikerin der Exekutive
Karin Keller-Sutter, geboren am 22. Dezember 1963, wuchs zusammen mit drei älteren Brüdern in Wil SG auf. Sie wurde Übersetzerin und Konferenzdolmetscherin und absolvierte ein Nachdiplomstudium in Pädagogik. Ihre politische Karriere begann 1992 als FDP-Gemeinderätin in Wil, mit 32 Jahren wurde sie Kantonsrätin, mit 36 Jahren St. Galler Regierungsrätin. Von 2011 bis 2018 vertrat sie ihren Kanton im Ständerat, den sie 2018 präsidierte. Am 5. Dezember 2018 wurde Karin Keller-Sutter als Nachfolgerin von Johann Schneider-Ammann in den Bundesrat gewählt, wo sie das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement EJPD übernahm. Karin Keller-Sutter ist mit Morten Keller, Mediziner und Leiter der städtischen Gesundheitsdienste Zürich, verheiratet. Sie wohnt in Wil SG und während der Woche in Bern.