«Ich habe Flügel und brauche keine Wurzeln»
Sie schreibt, seit sie fünfzehn ist, und will schreiben bis zuletzt. Rund hundert Bücher hat Federica de Cesco, Schweizer Schriftstellerin mit italienischen Wurzeln, bisher verfasst. Soeben ist ihr neustes erschienen: «Das Erbe der Vogelmenschen».
Text: Usch Vollenwyder
Für Kulturschaffende ist die Corona-Zeit besonders schwierig. Wie geht es Ihnen als Schriftstellerin?
Leid tun mir Kulturschaffende wie Musikerinnen und Schauspieler, die schon seit längerem nicht auftreten können. Eigentlich wäre ich jetzt mit meinem neuen Buch unterwegs, doch mit einer Ausnahme wurden alle Lesungen abgesagt oder verschoben. Die erzwungene Pause nehme ich gelassen. Ich weiss, dass ich mich jederzeit an den Computer setzen und schreiben könnte. Schlimmer finde ich den verordneten Abstand. Der Mensch braucht menschliche Nähe.
Warten Sie auf den Kuss der Muse, bevor Sie Ihr nächstes Buchprojekt beginnen?
Ich kann nicht warten, bis mich die Muse küsst. Ich hätte 36 000 Entschuldigungen, warum ich mit der Arbeit nicht beginne. Schreiben ist mein Beruf. Ich erledige ein tägliches Pensum, früher waren das sechs bis acht Stunden, heute arbeite ich jeweils drei Stunden am Vormittag und etwa zwei am Nachmittag. Wenn ich einmal nicht weiterweiss, erzähle ich auf einem Spaziergang oder beim täglichen Joggen meinem Mann davon. Allein das Reden darüber hilft, dass das Schreiben wieder in Fluss kommt.
«Der rote Seidenschal» war Ihr erstes Jugendbuch. Sie schrieben es mit sechzehn. Welche Erinnerungen haben Sie daran?
Ich schrieb, weil ich Lust zum Schreiben hatte. Meine Mutter ermutigte mich, das Manuskript an einen Verlag zu schicken. Dass es gleich ein solcher Erfolg werden würde, hätte ich nie erwartet. Vieles, was ich damals schrieb, wäre in der heutigen Zeit nicht mehr möglich – zum Beispiel, dass der schöne Indianerjüngling meiner Protagonistin einen rauchenden Colt in die Hand drückt und sie damit um sich schiesst. Auch der Schluss entspricht ganz dem damaligen Zeitgeist: Nach dem Abenteuer in der Wüste kehrt die junge Frau brav zu ihrer Tante zurück. Heute würde ich sie mit dem jungen Mann zu seinem Stamm durchbrennen lassen! Trotzdem wird das Buch immer noch gelesen – allerdings nicht mehr von Mädchen zwischen vierzehn und sechzehn, sondern von Jungen und Mädchen ab acht.
Vor welcher Kultur und Kulisse lassen Sie Ihre Romane am liebsten spielen?
Ich fühle mich dem Volk der Indianer sehr verbunden. Diese Vertrautheit muss gegenseitig sein. Als mein Mann und ich für die Verfilmung meines Romans «Shana, das Wolfsmädchen» in Kanada weilten, wurden wir sofort aufgenommen. Ich habe grosse Achtung vor der tiefen Verbundenheit der Indianer mit der Erde und vor ihrem alten Wissen um die beseelte Natur.
Auch Ihr neues Buch «Das Erbe der Vogelmenschen» handelt von uraltem verlorenem Wissen …
Die Archäologiestudentin Leo stammt von einem Schamanenvolk ab, das vor Jahrtausenden im Mittleren Osten lebte und Geier als heilige Wesen verehrte. Auf der Suche nach ihren Wurzeln reist Leo nach Anatolien und besucht einen rätselhaften Steintempel. Vor der realen Geschichte dieser ältesten Tempelanlage – sie heisst Göbekli Tepe – spielt die imaginäre Geschichte von Leo, der Nachfahrin der sagenumwobenen Vogelmenschen.
Wie kamen Sie auf diesen historischen Hintergrund
Ich war fasziniert von einem Buch des deutschen Archäologen Klaus Schmidt, der in Göbekli Tepe in der Südosttürkei geforscht hatte. Diese unterirdischen Tempelanlagen oder Sternwarten – die Wissenschaft ist sich darüber nicht ganz einig – mit ihren kunstvoll in Stein gemeisselten Reliefs entstanden im zwölften Jahrtausend vor unserer Zeit und sind die ältesten Zeugen menschlicher Zivilisation. Die historischen Hintergründe in meinen Romanen recherchiere ich sehr sorgfältig. Sonst werde ich als Autorin nicht ernst genommen und bekomme aus der Leserschaft entsprechende Rückmeldungen.
Als Autorin lassen Sie sich nicht in ein bestimmtes Korsett drängen. Schreiben Sie, worauf Sie Lust haben?
Ja. Mein nächstes Buch wird vielleicht ein Krimi oder mal wieder ein Jugendbuch sein. Warum nicht? Ich schrieb auch schon ein Buch mit Geschichten für Kinder zur ersten Kommunion und einen erotischen Roman. Das war «Die Silbermuschel» – nach über fünfzig Kinder- und Jugendbüchern mein erstes Buch für Erwachsene.
Im Buch «Der englische Liebhaber» erzählen Sie aus ihrer Familiengeschichte. Wie kamen Sie dazu?
Während einer Lesereise in der Umgebung von Münster in Deutschland besuchte ich eine Tante mütterlicherseits im dortigen Altersheim. Ihr Sohn – im Buch mache ich eine Tochter daraus – war gestorben und ich ihre nächste Angehörige. Sie schickte mich in ihre Wohnung: Ich solle alles daraus nehmen, was ich wolle. Ich fand einen vertrockneten Strauss langstieliger Rosen und drei Schuhschachteln mit Briefen. Diese Briefe nahm ich mit und verstaute sie zu Hause ungelesen ganz oben in meinem Buffet. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass meine biedere Tante Fränzel einen spannenden Briefwechsel gehabt haben könnte. Während vieler Jahre gingen die Briefe vergessen.
Wie kamen sie schliesslich doch noch ans Licht?
Ich plante mit meinem Verleger mein nächstes Buch, als sie mir plötzlich wieder einfielen. Ich sagte zu ihm: «Du, da sind noch Briefe von meiner Tante und ihrem Liebhaber. Interessiert dich das?» Er las einige der Briefe und meinte: «Mensch, Federica, du weisst gar nicht, welchen Schatz du da vor dir hast.» Ich wühlte in den Briefen und Fotos und erfuhr, Publireportage den britischen Geheimdienst gearbeitet hatte. Natürlich kam mir sofort James Bond in den Sinn. Die Fotos zeigten einen attraktiven Mann – wie Clark Gable im Film «Vom Winde verweht». Diesen sexy Mann brachte ich überhaupt nicht mit meiner Tante zusammen.
„Ungerechtigkeit und Ungleichheit kann ich nicht ausstehen„
Warum nicht?
Immer schon hatte ich die Familie meiner Mutter als eher langweilig und sehr bieder empfunden. Meine Mutter kam aus einem bürgerlichen Haus. Sie sagte mir, was ich zu tun und zu lassen hatte: Kind, wie benimmst du dich … Hast du keine gute Kinderstube gehabt? … Du pfeifst ja wie ein Gassenjunge … Du machst dich schmutzig … Ich liess diese Sätze an mir abprallen. Ich wurde viel mehr geprägt von meinem Vater. Er war ein Freigeist, mit dem ich mich identifizieren konnte.
Wie hat Ihr Vater Sie geprägt?
Er hat mich in meiner Persönlichkeit und Entwicklung immer unterstützt und ermuntert. Als ich rauchen wollte, reichte er mir sein Päcklein Zigaretten. Ich weiss nicht, welchen Hintergedanken er dabei hatte: Jedenfalls rauchte ich eine seiner Gauloises, und mir wurde so speiübel, dass ich nie mehr zu einer Zigarette gegriffen habe. Mein Vater spazierte mit mir unter dem Sternenhimmel und erklärte mir die Sternbilder – er wäre gern Astronom geworden. Er nahm mich mit zum Billardspiel, damals war das eine richtige Männerdomäne. Er lehrte mich Schach spielen und sagte zu mir: «Fede», so nannte er mich, «wenn du nicht gut spielst, spiele ich nicht mehr mit dir. Das macht mir nämlich keinen Spass.»
Kommt von daher auch Ihre Vorliebe für starke Frauenfiguren?
Ich hatte gar nicht gewusst, dass man auch schwach sein könnte. Ja, vielleicht sind meine Frauenfiguren so eigenwillig und unabhängig, weil ich selber nichts anderes gekannt habe. Aber auch meine männlichen Helden müssen stark und emanzipiert sein. Frauen und Männer begegnen sich in meinen Romanen auf Augenhöhe, Ungerechtigkeit und Ungleichheit kann ich nicht ausstehen.
Ihre Hauptpersonen sind in der Regel jung und schön und lieben sich unendlich und für immer. Glauben Sie an die grosse Liebe?
Vielleicht ist es eine Idealvision. Doch mein Mann und ich sind jetzt fünfzig Jahre verheiratet und immer noch genügt ein Blick – und wir verstehen uns! Das geht wohl nur, wenn man sich kennt, schätzt und liebt. Weil ich das selber jeden Tag erlebe: Warum sollen meine Romanfiguren diese tiefe Verbundenheit nicht auch erfahren?
Was ist das Geheimnis Ihrer langen Beziehung?
Der gegenseitige Respekt. Etwas von dem behalten, was der frühere Zauber ausmachte, ein bisschen Romantik, ein Essen bei Kerzenschein zum Beispiel. Zusammen in ein Konzert gehen. Verständnis füreinander haben und zusammen leiden können. Mein Mann Kazu – er ist Japaner – und ich leben in einer Symbiose, dazu stehe ich. Wir müssen noch überlegen, was zu tun ist, wenn dereinst einer von uns allein zurückbleiben sollte.
Reden Sie zusammen über den Tod?
Ja. Aber in Japan wird der Tod als selbstverständlich akzeptiert. Sterben ist der Lauf der Zeit. Menschen sterben, Tiere sterben, das Universum kommt, bewegt sich auf den Wellen des Lebens und verschwindet wieder. Ich sage mir, dass der Tod nicht anders sein muss, als am Abend schlafen zu gehen. Ich möchte einfach vorher nicht leiden, weder an Corona noch an Krebs …
Wie haben Sie sich – eine Schweizerin und ein Japaner – überhaupt kennengelernt?
Ich war in Paris, sass in einem Restaurant, und der attraktive japanische Mann an meinem Nebentisch gefiel mir ausnehmend gut. Da ich ihn nicht einfach ansprechen konnte, liess ich meinen Ring unter den Tisch fallen. Beide bückten wir uns danach. Ich liess mich von seiner höflichen, aber etwas distanzierten Art nicht entmutigen, und so kamen wir ins Gespräch. Ich erfuhr, dass er kürzlich in Tokio sein Diplom in französischer Literatur erworben hatte und auf Studienreise in Paris war.
Welche Beziehung haben Sie zum Heimatland Ihres Mannes?
Ich habe anderthalb Jahre in Japan gelebt und fühlte mich dort sehr wohl. Ich bin in der Lage, mich allein in Tokio zu bewegen, einzukaufen oder mich mit älteren Respektspersonen zu unterhalten. Ich habe auch die in Japan so wichtige Körpersprache gelernt. Die Japanerinnen haben eine grosse Freiheit, sonst hätte ich dort nicht leben können. Bei meinem ersten Besuch fragte ich meinen Mann: «Worauf muss ich achten und was darf ich in deinem Land nicht tun?» Er sagte: «Du machst, was du willst.»
Sie haben auch viele Jahre am Genfersee gelebt, vor kurzem sind Sie nach Luzern gezogen. Warum?
Eigentlich wegen meines Verlegers, der zugleich ein guter Freund ist: Von Luzern aus ist der Kontakt einfacher, die Wege sind kürzer. Ich habe Flügel und brauche keine Wurzeln. Zusammen mit meinem Mann, der als Fotograf arbeitete, war ich schon an so vielen Orten auf der Welt! Ich kann überall glücklich sein, wenn ich nur die richtigen Menschen um mich habe. ❋
❱ Buch: Federica de Cesco: «Das Erbe der Vogelmenschen», Roman, Europa Verlag, München 2020, 264 S., ca. CHF 29.90
❱ Welche Art Mensch steckt hinter der Berühmtheit? Das möchten wir in unserem Format «5 Fragen an…» wissen.
5 Fragen an Federica de Cesco
Erfahrene Vielschreiberin
Federica de Cesco wurde am 23. März 1938 in Norditalien geboren. Als einzige Tochter eines italienischen Ingenieurs und einer deutschen Mutter wuchs sie mehrsprachig auf und studierte an der belgischen Universität Lüttich Psychologie und Kunstgeschichte. Ihr erstes Buch «Der rote Seidenschal» wurde gleich ein Erfolg. Bis heute hat die Schweizer Autorin rund hundert Bücher für Kinder, Jugendliche und Erwachsene geschrieben. Federica de Cesco wohnt mit ihrem Mann, dem japanischen Fotografen Kazuyuki Kitamura, in Luzern. Aus ihrer ersten Ehe mit einem Schweizer hat sie eine Tochter und einen Sohn. Sie ist Grossmutter von drei mittlerweile erwachsenen Enkelkindern.