«In mir wirkt sehr viel Kreativität, sie ist hellwach»
Es gibt wenige Spitzenpolitikerinnen und -politiker, die ihren Geltungsdrang hinter ihre Aufgaben zurückstellen. Bundesrätin Simonetta Sommaruga (60) gehört zu diesem kleinen Kreis. Ein Gespräch über ihre Liebe zu Menschen, zur Musik und über die Welt von morgen.
Text: Roland Grüter, Fotos: Bernard van Dierendonck
Sie liessen sich einst zur Konzertpianistin ausbilden: Haben Politik und Kultur viele Gemeinsamkeiten?
Durchaus. In beiden Fächern muss man sich selber und seine Ideen einbringen, um Neues zu schaffen. Dafür ist Kreativität erforderlich. Einzig die Instrumente, die man in diesen Welten spielt, unterscheiden sich.
Sie haben den Flügel gegen den Taktstock eingetauscht.
Nein. Ich sehe meine politische Rolle nicht als Dirigentin, vielmehr bin ich Teil eines grossen Orchesters. Als Pianistin machte ich oft Kammermusik, spielte in einem Trio mit Geige und Cello. In der Politik ist das Zusammenspiel ähnlich wichtig.
Sie sagen, in der Politik sei Kreativität gefragt: Viele verbinden damit Kalkül und strategischem Geschick. Wahrscheinlich wird deshalb immer wieder zum Thema, dass Sie mit einem Schriftsteller verheiratet sind, mit Lukas Hartmann. Kopf trifft Kreativität.Lustig. Ich, eine kopflastige Politikerin?
Ich komme aus einer Welt mit vielen Büchern und voller Musik. Das prägt mich noch heute, auch wenn ich mittlerweile anderen Aufgaben nachgehe. In mir wirkt sehr viel Kreativität, sie ist hellwach. Das können Sie mir gerne glauben.
Gibt es ein klassisches Werk, das Ihrem Naturell besonders entspricht?
Dazu fällt mir das Klavier-Quintett von Johannes Brahms ein, das ich einst an Konzerten gespielt habe. Genau genommen ist es ein Werk für Streicher. Das Klavier ist darin zwar Soloinstrument, steht aber mit den anderen Musikern im stetigen Dialog. Man spielt sich sozusagen in die Hand, darin erkenne ich mich wieder.
Was bevorzugen Sie mehr: das Spiel im Orchester oder Soli?
Es braucht Orchester und Soli. Ich mag das Miteinander zwar gerne. Manchmal ist es aber wichtig, Solistin zu sein. Alles zu seiner Zeit.
Spielen Sie noch immer Klavier?
Auf jeden Fall. Nicht jeden Tag, aber regelmässig. Das Spiel hilft mir, die innere Orientierung zu finden, mich zu sammeln. Als Politikerin stehe ich oft in der Öffentlichkeit, bin im ständigen Dialog. Entsprechend wichtig sind die stillen Momente, in denen ich immer wieder zu mir selber finden kann.
«Ich bin 60 Jahre alt und weiss einiges über mich und die Welt.»
Simonetta Sommaruga
Sie kennen bestimmt das Stück «Die vier Jahreszeiten» von Antonio Vivaldi. Welches der vier Kapitel entspricht Ihrem aktuellen Lebenspunkt?
Wohl der Herbst. Vivaldi hat diesem ein Trinklied gewidmet, darin feiert er die Ernte. Ich bin ja mittlerweile 60 Jahre alt und weiss einiges über mich, aber auch über die Welt. Der Herbst ist die Zeit des Erntens – der Schatz an Erfahrungen ist reicher. Ein schönes Alter. Trotzdem liegt mir der Sommer emotional näher. Denn ich stehe noch immer mitten im Leben und habe viele Pläne.
Welchen Wert verbinden Sie mit dem Lebensabschnitt, der vor Ihnen liegt?
Loslassen. Viele müssen sich von Dingen verabschieden, die sie schwerer oder überhaupt nicht mehr machen können. Das erlebe ich gerade mit meiner Mutter. Sie ist mittlerweile betagt und muss einige Einschränkungen hinnehmen. Das zu sehen, ist sehr berührend. Meine Mutter war eine leidenschaftliche Gärtnerin. Pflanzen wachsen zu sehen und diese zu hegen, bereitete ihr ein Leben lang grosse Freude. Jetzt lebt sie im Altersheim, ihre kleine Terrasse bietet gerade Platz für einen Oleander. Sie aber sagt: Dieser ist jetzt mein Garten.
Ihre Mutter sieht, was ihr geblieben ist…
Richtig. All die Einschränkungen sind zwar schmerzhaft. Meiner Mutter aber ist der Garten geblieben. Sie hat losgelassen und freut sich am Oleander. Ich hoffe, dass ich daraus lernen kann. Die Politik plant extrem langfristig – verändert sich der Blick auf die Welt, wenn die eigene Zukunft kurz und kürzer wird? In meinem Departement beschäftigen wir uns täglich mit Umwelt- und Klimafragen, da wird einem der Zeitfaktor immer wieder aufs Neue bewusst. Wir stimmen im Sommer an der Urne über das CO2-Gesetz ab und stellen die Weichen, damit die Schweiz bis 2050 unter dem Strich keine Treibhausgas-Emissionen mehr ausstossen wird. Im 2050 bin ich 90, das zweite Grosskind in meiner Familie, das vor kurzem geboren wurde, wird 30 sein. Das bedeutet: Ich setze mich heute nicht mehr vorab für meine Zukunft ein, sondern für jene der nächsten Generationen. Das gibt mir Energie.
Womit wir in der aktuellen Politik angekommen sind. In aller Kürze: Weshalb sollten unsere Leserinnen und Leser zur Vorlage laut und deutlich ja sagen?
Die Schweiz leidet besonders unter dem Klimawandel. Die Folgen sind längst greifbar. Denken Sie nur an die schmelzenden Gletscher, die vielen Murgänge, die Hitzeperioden. Wenn wir den Klimawandel stoppen wollen, müssen wir den CO2-Ausstoss reduzieren. Das machen wir mit dem CO2-Gesetz. Junge Menschen haben dieselben Chancen verdient wie wir. Mit einem Ja zum CO2-Gesetz schaffen wir für sie Arbeitsplätze und eine gesunde Zukunft.
Sie sehen das Gesetz als Generationenprojekt: Weshalb?
Der Klimawandel betrifft alle. Ältere können jungen Menschen etwas Wichtiges mit auf ihren Weg geben: Hoffnung auf ein ähnlich gutes Leben, wie sie es hoffentlich selber führen durften. Denn wie der Blick in die Vergangenheit zeigt, ist das Leben sehr fragil. Auch die Schweiz erlebte schon schwierige Jahre – Jahre mit bitterer Armut, Jahre, in denen Kinder als Verdingkinder ausgenutzt wurden. Ich will mich dafür einsetzen, dass unsere Enkelinnen und Enkel von Armut und anderer Unbill verschont bleiben.
Verweisen Umweltfragen nicht auch auf einen Generationenkonflikt? Die jungen Aktivistinnen und Aktivisten der «Friday for Future»-Bewegung werfen insbesondere uns Älteren vor, die Umwelt auf ihre Kosten malträtiert zu haben. Ein Generationenkonflikt?
Nein, den sehe ich nicht. Ich sehe stattdessen viele ältere Menschen, denen die Zukunft nicht einfach egal ist. Sie sind durchaus willens, sparsamer mit Ressourcen umzugehen oder neue Technologien zu nutzen, welche die Umwelt schonen. Einige setzen sich Seite an Seite mit ihren Enkelkindern für den Klimaschutz ein.
In den Augen der «Friday for Future»-Jugend handeln wir – und vor allem Politiker – zu zögerlich.
Jüngere Menschen sind per se ungeduldiger. Und ich verstehe ihre Ungeduld sehr gut. Sie wollen rascher, schneller und kompromissloser handeln. Politik ist aber immer auch Interessenausgleich. Beim CO2-Gesetz ist es uns gelungen, eine gute Balance zu finden. Es setzt nicht auf Verbote, sondern auf Anreize. Wer klimaschonend lebt – und das tun schon viele –, profitiert. Das Klimaschutzgesetz ist gut für die Menschen, das Land, die Wirtschaft und für den Arbeitsmarkt. Deshalb wird es auch so breit unterstützt: von den Kantonen, vielen Wirtschaftsverbänden und den Naturschutzorganisationen.
Manchen Jugendlichen ist verdächtig, dass die Zukunft vor allem von älteren Menschen geregelt wird. US-Präsident Joe Biden ist immerhin 78, die deutsche Bundeskanzlerin 66. Verstehen Sie diese Vorbehalte?
Bedingt. Eine 80-, 70- oder 60-Jährige kann sich durchaus in junge Menschen hineinversetzen und kann nachvollziehen, welche Sorgen sie beschäftigen, und die richtigen Schritte einleiten, um deren Zukunft positiv zu prägen. Aber selbstverständlich ist es wichtig, dass junge Menschen ihre Zukunft auch direkt beeinflussen können. Es ist gut, dass bei den letzten Wahlen so viele junge Menschen in den Nationalrat gewählt wurden.
Auch das Durchschnittsalter des Bundesrates liegt bei 56 Jahren – in der Wirtschaft würden die Räte dem alten Eisen zugerechnet. Weshalb werden die Stärken von Oldies in vielen Unternehmungen anders gewertet?
Da ist einiges im Umbruch. Die Wirtschaft erkennt zunehmend, dass Lebens- und Berufserfahrung ganz wichtig sind. Längst nicht alle Berufstätigen wollen aber bis zur Pensionierung arbeiten, andere können es aus gesundheitlichen Gründen nicht.
Auch die Gesellschaft wertschätzt ältere Menschen offenbar zu wenig. Wie eine Umfrage der Weltgesundheitsorganisation WHO unlängst gezeigt hat, haben 50 Prozent der Erwachsenen Vorurteile. Sie sprechen Seniorinnen und Senioren oft diskriminierende Werte zu. Haben Sie eine Idee, was dahinter wirken könnte?
Die Gesellschaft, in der wir leben, ist oft auf Leistung und Produktivität ausgerichtet. Alle müssen fit sein, allen geht es gut. Wer nicht mithalten kann, wird schnell einmal an den Rand gedrängt. Eine Leistungsgesellschaft neigt dazu, Schwächen, Einschränkungen und Krankheiten zu negieren und zu verdrängen.
Wird deshalb auch das Älterwerden negiert?
Vielleicht. Doch die Sichtweise auf die Einschränkungen, welche die Menschen offenbar damit verbinden, ist ungerecht und einseitig. Denken Sie nur an all die Leistungen, welche Grossmütter und Grossväter in unserem Land verrichten, etwa in der Betreuung ihrer Enkel oder in der Freiwilligenarbeit. Das ist grossartig. Unser Land könnte ohne deren Beitrag gar nicht erst funktionieren. Das wird zu wenig anerkannt und honoriert.
«Vielen älteren Menschen ist die Zukunft nicht egal.»
Simonetta Sommaruga
Sie sind seit bald 25 Jahren aktiv in der Politik engagiert: Was hält Sie darin?
Die Menschen. Denn mir war früh bewusst: In unserem Land leben viele Frauen und Männer, denen das Glück weniger gut gesinnt ist als mir. Gegen diese sozialen Ungerechtigkeiten wollte ich mich stemmen. Auch den Schwächsten soll es in einer Gesellschaft gutgehen. Das ist meine Überzeugung, mein Lebensantrieb – nicht nur in der Politik.
Woher rührt diese Faszination?
Ich bin sehr neugierig. Mich interessieren seit je Menschen, die ein anders Leben führen, als ich es kenne. Wie geht es den Jungen, wie den Älteren, wie jenen in anderen Ländern? Deshalb ist es mir auch in meiner aktuellen Funktion als Bundesrätin wichtig, mit Frauen und Männern unseres Landes im engen Kontakt zu bleiben. Denn Begegnungen sind zentral. Sie bereichern mein Leben, bringen mich persönlich vorwärts.
Was hat Sie die Corona-Pandemie über die Menschen gelehrt?
Erstens, dass man wichtige Menschen oft übersieht: den Pöstler, den Elektriker oder die Busfahrerin etwa – dank ihnen funktioniert unsere Grundversorgung auch in einer Jahrhundertkrise. Ihre Leistungen sind unverzichtbar für uns alle. Zweitens hat die Pandemie in aller Härte soziale Ungleichheiten aufgezeigt. Mir wurde bewusster, wie viele Menschen in der Schweiz allein und einsam sind. Dass nicht alle Kinder die gleichen Startchancen haben, insbesondere, wenn das Schulsystem aus dem Tritt gerät. Ich hoffe, dass uns diese Erfahrungen genügend sensibilisiert haben, um daraus zu lernen.
Sie waren vergangenes Jahr Bundespräsidentin und rundum mit der Krise beschäftigt.
Stimmt. Das Krisenmanagement hat mir einiges abverlangt. Es war mir wichtig, für die Bevölkerung da zu sein und gemeinsam im Bundesrat gute Lösungen zu finden. Das hielt mich rund um die Uhr auf Trab.
Und brachte Sie manchmal auch an die Grenzen?
Ich bin mir eine schnelle Gangart zwar gewohnt. Aber: Die Situation war und ist noch immer einzigartig. Offenbar haben Sie Ihren Job gut gemacht. Sie wurden allenthalben als Leitfigur gesehen und gefeiert. Ich wurde immer wieder danach gefragt, wie ich meine Rolle in der Krise sehe. Ich antwortete jeweils: Ich spiele keine Rolle, ich bin, was ich immer bin: Simonetta Sommaruga.
Jetzt stapeln Sie tief.
Nein. Man sollte in der Politik seinen eigenen Beitrag nicht überbewerten. Selbst die Bundespräsidentin ist nicht mehr als ein Rädchen in einer grossen Maschinerie. Der Bundesrat, das Parlament, die Kantone und Verbände: Viele Antworten auf all die Fragen entstanden im Dialog, durch das Miteinander.
Sie wurden vergangenes Jahr mitten in der Corona-Pandemie 60 und planten ein grosses Fest. Ich vermute: Daraus ist nichts geworden.
Eigentlich hatte ich die Idee, mein Fest mit Menschen zu feiern, die wie ich am 14. Mai 1960 geboren sind. Der Aufruf, sich bei mir zu melden, war bereits draussen, und das Interesse daran war gross. Leider mussten wir das Treffen aus bekannten Gründen verschieben.
Wann holen Sie das Fest nach?
Eigentlich wollte ich im Mai 2021 feiern – aber mit Blick auf die aktuelle Corona-Lage ist auch heuer nichts daraus geworden. Die Zeit läuft nicht davon – ich bleibe für 2022 optimistisch.
Die Besonnene
Wenn es brennt, muss man Ruhe bewahren. Dieser Losung folgte Bundesrätin Simonetta Sommaruga (60) bereits 1997, als sie in der Berner Gemeinde Köniz Gemeinderätin und Feuerwehrchefin war. Noch heute ist Besonnenheit ihr Markenzeichen. Simonetta Sommaruga wurde am 14. Mai 1960 in Sins AG geboren. Nach ihrer Matura liess sie sich am Konservatorium Luzern zur Pianistin ausbilden, entschied sich in der Folge aber für einen anderen Berufsweg. Sie arbeitete u.a. 17 Jahre für die Stiftung für Konsumentenschutz. Zwischen 2003 und 2010 vertrat sie schliesslich den Kanton Bern im Ständerat. Im Jahr 2010 wurde die SP-Politikerin in den Bundesrat gewählt – aktuell steht sie dem Eidgenössischen Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation UVEK vor. Sie ist mit Schriftsteller Lukas Hartmann verheiratet. Das Ehepaar lebt in Bern.