Auf Dauer provisorisch
Das Fotobuch «Für immer» ehrt improvisierte Flick(kunst)werke, die aus Kaputtem wieder Funktionstüchtiges machen. Die Einfälle sind sehr vergnüglich.
Text: Fabian Rottmeier
Amalie Brandenfels ist über 80-jährig. Ein Alter, in dem das Aufstehen aus dem geliebten Sofa immer etwas mühsamer wird. Und weil sie keine Lust hat, sich darauf unerwünscht zu Tode zu sitzen, grübelt sie nach Lösungen (ziemlich lange, wie sie schreibt). Schliesslich hat sie die perfekt funktionierende Idee: vier Konfi-Gläser als Sofafüsse, um die Sitzfläche etwas zu erhöhen! «Die vier knopfartigen Beine passten genau in die Öffnung, so dass nichts verrutschen kann», schreibt die deutsche Seniorin. (Wer sich trotzdem lieber kaum aus dem Sofa hieven möchte, dem sei dieser Artikel über «Slow TV» empfohlen.)
Man ist nie zu alt, um ein kleiner MacGyver zu sein. Die amerikanische Serienfigur aus den Achtzigern war uns Schweizerinnen und Schweizern allein schon deshalb sympathisch, weil Nothelfer Angus MacGyver wie ein Schweizer Sackmesser auf fast alles mit tüftlerischem Talent eine Lösung hatte (notabene mit Schweizer Armeemesser auf Mann).
Amalie Brandenfels’ Idee ist nur eine von vielen verblüffenden Einfällen, die im Fototaschenbuch «Für immer» zu sehen sind. Die deutsche Kunstkritikerin, Autorin und Fotografin Sandra Danicke hat darin Dutzende Flickwerke aus Deutschland (und deutschen Feriendestinationen) zusammengetragen, die ein Problem behoben haben – eigentlich bloss zur Überbrückung. Doch wir kennen es: Sobald etwas wieder funktioniert, werden wir vergesslich oder faul (oder beides) – und lassen aus dem Provisorium etwas Dauerhaftes werden. Meist offenbaren die im Fotobuch gezeigten Werke erst durch die beigefügten Bildlegenden ihre wahre Genialität. Und man lacht los.
Selbsthilfe hat Charme
Einige der Aufnahmen im Buch hat Sandra Danicke selbst gemacht. Seit rund zehn Jahren sammelt sie Fotos dieser provisorischen Konstruktionen. Ab 2019 veröffentlichte sie in der «Frankfurter Rundschau» eine Fotokolumne dazu – und erhielt von den Leserinnen und Leser viele weitere wunderbare Flick(kunst)werke. Sie möge den Charme, den diese Art von Selbsthilfe ausstrahle, schreibt sie in ihrem Vorwort.
Die Autorin hat die teilweise genialen Basteleien in 20 Kapiteln fein säuberlich geordnet. Diese heissen dann etwa «Tür zu», «Korken», Kleiderbügel» oder «Auto». In Letzerem sieht man einen kostengünstigen Autositzüberzug, der sich prima waschen lässt: ein ärmelloses Herrenunterhemd. Nebeneffekt: Die beiden Sitze sehen aus wie Bodyguards. Ein anderer kleiner MacGyver hat seine Handkaffeemühle kurzerhand zu einer elektrischen umfunktioniert: mit einem Anschluss für eine Bohrmaschine. Unser Favorit jedoch stammt aus der georgischen Hafenstadt Batumi. Auf ihrem Ferienfoto hat eine deutsche Touristin eine zu kurz geratene Regenrinne festgehalten. Das untere Ende der Röhre wurde ganz einfach mit einem gelben Gummistiefel erweitert, dem man an der Schuhspitze ein grosses Loch verpasst hat. Ganz nach dem Motto: «Läuft bei mir.»
Und wie sieht Ihr Provisorium aus?
Haben auch Sie, liebe Leserinnen und Leser, zuhause ein Flickwerk, auf das sie ein wenig stolz sind? Oder haben ebenfalls schon fremde Provisorien fotografiert? Dann schicken Sie uns Ihre «Kunstwerke» an fabian.rottmeier@zeitlupe.ch. Gerne publizieren wir sie an dieser Stelle.
Einige weitere Beispiele gefällig? Problem: durchgelegene Matratze im Hotel. Lösung: Badezimmertür aus den Angeln heben und unter die Matratze legen. Problem: kaputter Kugelschreiber-Knopf. Ersatzlösung: ein Wattestäbchen. Problem: Fehlende Regenblache für eine Vespa. Lösung: Aufblasbares Kinderplanschbecken verkehrt rum über das Motorrad spannen. Kreativ, nicht?
© Christa-Sack (li.) und Marianne-Scholz
Sandra Danicke: «Für immer – Leben mit Provisorien», VfmK Verlag für moderne Kunst, Wien, vfmk.org, Richtpreis CHF 36.90.
Weitere originelle Fotos finden Sie hier in unserer Bildergalerie «Die Schweiz vor 100 Jahren».